„Die Demokraten von heute setzen wieder auf mehr Umverteilung“, sagt Norman Birnbaum

Schlecht für Bush: Im US-Wahlkampf werden die Themen soziale Gerechtigkeit und Arbeitsplätze immer wichtiger

taz: Herr Birnbaum, was hat Sie bislang bei den Präsidentschaftsvorwahlen am meisten überrascht?

Norman Birnbaum: Die Geschwindigkeit, mit der sich die Antikriegsposition unter den ernst zu nehmenden Kandidaten verbreitet hat, mit Ausnahme von Joe Lieberman. Ursprünglich wurde sie nur von Howard Dean vertreten, dann von Wesley Clark – mit dem bekannten Zitat: „Der falsche Krieg zur falschen Zeit am falschen Ort“ – und später auch von John Edwards und John Kerry übernommen

Kerrys Comeback und sein Erfolg – was sagt dies über die gegenwärtige Verfassung der Demokratischen Partei?

Es ist ein Paradox. Kerry hat kein markantes ideologisches Profil, obwohl er zum linken Parteiflügel gehört. Sein Erfolg beruht fast ausschließlich auf dem so genannten Wählbarkeitsfaktor. Ihm wird zugetraut, Bush zu besiegen. Der übergroße Wunsch, Bush loszuwerden, hat zu zwei bemerkenswerten Entwicklungen geführt: einer hohen Wahlbeteiligung und der Registrierung vieler neuer Wähler. Zudem hat sich die Partei in wirtschaftlichen und sozialen Fragen deutlich in Richtung ihrer sozialdemokratischen Wurzeln bewegt.

Hat der Wähler das gemerkt? Schließlich votierte Kerry für die Einschränkung der Bürgerrechte und die Kriegsresolution. Erst kürzlich hat dann er eine Kehrtwende vollzogen. Ist sein Erfolg kein Hinweis, dass sich die Wähler kaum um Inhalte scheren?

Nein. Die Wähler sind bereit, Kerry zu vergeben. Sie honorieren seine aktuelle Kritik am Irakeinsatz und seine harte Haltung gegenüber Bush. Doch neben dem Wählbarkeitsaspekt spielen Inhalte eine wichtige Rolle.

Welche?

Vor allem der Krieg. Er ist für viele Wähler ein Missbrauch der Supermacht. Sie sehen die riesigen Militärausgaben und menschlichen Opfer. Über 500 Tote und 20.000 Evakuierungen in Hospitäler gehen nicht spurlos an ihnen vorbei. Das Hauptthema für sie ist die Neujustierung von Amerikas Macht in der Welt.

Die Amerikaner interessieren sich also für Außenpolitik?

Wir befinden uns mitten in einer Krise. Dies ist zu vergleichen mit den Wahlen von 1968 oder 1972 während des Vietnamkrieges. Außenpolitik ist also unvermeidbar. Ich glaube jedoch, dass unabhängig von der Situation im Irak, Arbeitsmarkt, Gesundheitsversorgung und Bildungspolitik wahlentscheidend sein werden. In allen Debatten der Präsidentschaftsbewerber dominiert eine Frage: Wie kann man US-Jobs in Zeiten von Globalisierung, schwächerer Wirtschaft und zunehmender Verlagerung von Arbeitsplätzen nach Asien sichern? Die Suche nach Lösungsansätzen, die Gewerkschaften und Unternehmen befriedigen, hat innerhalb der Demokraten gerade erst begonnen.

In welche Richtung bewegt sich die Partei?

Der Enthusiasmus im Hinblick auf Freihandel, der noch unter Clinton innerhalb der Partei vorhanden war, ist erheblich zurückgegangen. Sicher, es gab stets Widerstand aus den eigenen linken Reihen, von Gewerkschaften und Menschenrechtlern. Doch nun ist der Handlungsdruck dadurch gestiegen, dass eine rapide wachsende Zahl hoch qualifizierter und hoch bezahlter Arbeitsplätze ins Ausland verlagert wird. Freihandel wird plötzlich in einem kritischeren Licht gesehen.

Wenn man John Edwards über Armut sprechen hört, Howard Dean und Wesley Clark über eine gerechtere Verteilung des gesellschaftlichen Wohlstands, klingt es nach purem Populismus. Verbirgt sich dahinter ein neues Bewusstsein für soziale Verantwortung?

Wer sich an Franklin D. Roosevelt, John F. Kennedy und auch Lyndon B. Johnson erinnert, der erkennt eine lange Tradition der Demokraten, was soziale Reformen und eine faire Verteilung des Wohlstands anbetrifft. Diese Ideen spielen plötzlich wieder eine Rolle, wie sich besonders eindrucksvoll in South Carolina ablesen ließ. Themen, die hier noch vor kurzem die öffentliche Diskussion bestimmten, wie das Verhältnis von Religion und Staat oder der Streit um das Verbot, die Südstaatenfahne zu hissen, sind nebensächlich geworden. Es dreht sich alles um Arbeitsplätze und soziale Absicherung.

Angenommen, Kerry wird zum Präsidenten gewählt und der Kongress bleibt in der Hand der Republikaner. Was würde er ändern wollen und können?

Das Wichtigste: Bestimmte Dinge würden NICHT mehr passieren. Keine Berufung reaktionärer Richter, kein Rekordhaushaltsdefizit, keine Steuergeschenke für Reiche und kein radikalkonservatives Gesetz, denn der Präsident könnte es mit seinem Veto blockieren. Außenpolitisch wäre er viel vorsichtiger bei militärischen Interventionen und würde neue Brücken bauen nach Europa und Lateinamerika. Generell würde jeder demokratische Präsident multilateraler agieren.

Unabhängig davon, ob die Demokraten im November gewinnen werden, wird das Gesicht der Partei verglichen mit der Clinton-Ära dann ein anderes sein?

Ja. Die so genannten neuen Demokraten unter Clinton verlieren an Einfluss. Sie wollten das Wirtschaftswachstum stimulieren, um mehr Arbeitsplätze und Wohlstand zu schaffen, sowie die direkte gesellschaftliche Umverteilung reduzieren. Die Demokraten von heute setzen wieder auf mehr Umverteilung, Re-Regulierung und kehren damit zur ihren Werten von Anfang und Mitte des 20. Jahrhunderts zurück. INTERVIEW: M. STRECK