1.000 Fragen, keine Antwort

Birte Weigang, DDR-Schwimm-Olympiasiegerin, hat sich durchgerungen, Antrag auf Dopingopfer-Entschädigung zu stellen. Heute endet die Frist. Damit ist das Thema nicht erledigt, so Weigang

Interview MARKUS VÖLKER

taz: Frau Weigang, wann haben Sie Ihren Antrag auf Entschädigung eingereicht?

Birte Weigang: Letzten Dienstag per Fax.

Warum erst so spät? Es bestand doch monatelang die Möglichkeit dazu.

Weil es ein unschönes Thema ist. Ich habe es immer weggeschoben – seit Oktober stand es auf einer Liste der Dinge, die dringend gemacht werden sollten.

Warum ist es Ihnen so schwer gefallen, die Unterlagen ans Bundesverwaltungsamt nach Köln zu schicken?

Man kommt ins Überlegen. Zahllose Gedanken schießen durch den Kopf. Wenn du den Antrag gestellt hast, musst du dann deine Medaillen abgeben, hab ich mich gefragt. Oder: Geht’s dir mit dem Geld besser, hilft dir das für die Rente?

Und?

Mit meinem Antrag will ich letztlich nur darauf hinweisen, dass es Doping an Minderjährigen gab. Ich bin kein Mensch, der diesen Fakt versteckt. So etwas darf nie wieder passieren. Und die Trainer, die das verantwortet haben und denen ich noch heute in Amt und Würden begegne, müssen endlich abtreten.

Viele ehemalige Sportler scheuen diese Auseinandersetzung mit dem eigenen Schicksal und haben keinen Antrag gestellt.

Es gibt große Ängste. Und eine ganze Reihe bohrender Fragen: Schwärze ich damit jemanden an? Habe ich selber Schuld auf mich geladen? Verliere ich als Frau meine Weiblichkeit, wenn ich zugebe, testosteronhaltige Medikamte in großen Mengen eingenommen zu haben? Wenn man sich outet und den Antrag stellt, hat man auch Angst vor dem Vorwurf, es gehe einem nur ums Geld. Aber dieses Geld wird niemals aufwiegen, was die Betroffenen alles zu tragen haben. Ich weiß, wie es mir heute geht – und das reicht mir schon.

Unter welchen Folgen leiden Sie?

Ich bin körperlich viel älter, als es im Ausweis steht. Es gibt Wirbelsäulenschäden. Aber ganz generell habe ich meine Probleme mit dem Begriff Dopingopfer, denn er impliziert, ich sei so etwas wie ein Mutant. Manchmal ist es wirklich schwer, in den Spiegel zu schauen und sein Bild zu akzeptieren. Mein rechtes Bein schläft nach einer halben Stunde Belastung ein. Ich habe Ausfallerscheinungen wegen eines nicht richtig diagnostizierten Wirbelsäulenbruchs. Ich will aber kein Mutant sein, kein Opfer, ich will einfach nur normal sein. Früher war ich das nicht, weil alles dem Training zum Opfer fiel, heute bin ich es wegen der Nachwirkungen aus dieser Zeit nicht.

Haben Sie eine Ahnung, wann die Manipulationen losgingen?

Es gab für mich keine Jugend, sondern nur das Schwimmen. Nur Training. Irgendwann ist es passiert, dass das Zeug verordnet wurde. Damit wurde der Körper belastbarer, ich konnte noch mehr trainieren. Dadurch war es möglich, in kürzester Zeit einen riesigen Leistungssprung zu tun. Alles lief wie im Zeitraffer: Allerdings ist man auch gesundheitlich in einem Jahr zehn Jahre älter geworden. Ich wurde damals nicht gefragt, ob ich das will und ob ich heute so aussehen will, wie ich aussehe. Ob ich die Erkrankungen haben will, die ich heute habe. Es war eindeutig Missbrauch. Der Olympiasieg ist ja nur eine Sternschnuppe, ein flüchtiger Augenblick. Jetzt bin ich mit dem ganz normalen Leben konfrontiert und meine Medaillen verstauben im Schrank. Was nützen Sie mir heute? Was hat es gebracht?

Sie sind schon mit 16 beim Europapokal gestartet, war Ihnen da klar, dass Sie Teil der kollektiven Dopingkur waren?

Bewusst ist es mir geworden, als ich mit 16, 17 Jahren im Olympiakader stand und dann bestimmte medizinische Maßnahmen verordnet wurden, die ich überhaupt nicht verstanden habe. Wo nur gesagt wurde: Du hast dies und das zu machen, und fertig. Fragen nach einem Warum gab es damals nicht.

Dafür heute umso mehr.

Für mich ist meine sportliche Vergangenheit wie ein Puzzle, das ich immer neu zusammensetzen muss. Vieles bleibt unklar, diffus, fast mystisch.

Wie viele Teile fehlen in diesem Puzzle noch?

Tausend Teile. Viele Unterlagen sind verschwunden. Grundsätzlich frage ich mich, ob es sich lohnt, die ganze Sache aufzuarbeiten. Oder sollte ich nicht lieber meine Kraft darauf verwenden, hier und jetzt zu leben.

Das erneute Eintauchen in die Vergangenheit, wie viel Überwindung hat das gekostet?

Die Neigung zur Verdrängung ist groß. Genauso wie ich immer wieder die Antragsformulare unter den Stapel Papiere geschoben habe, will man das auch mit der Erinnerung tun. Aber man sollte aufrecht gehen, Rückgrat zeigen und sagen, was passiert ist.

Was haben Sie im Lauf der Antragstellung zusammengetragen?

Ich habe tausend Sachen besorgt. Ärztliche Gutachten, Röntgenbilder und so weiter. Man liest das dann alles und die Angst wächst. Man stellt Vermutungen und Verdächtigungen an, versucht, den Kreis zu schließen – vergeblich. Wenn man da keinen festen Boden unter den Füßen hat, wird es problematisch. Man hat tausend Fragen und keine Antwort. Und einfach nur verdammte Angst.

Wie hat Ihnen dabei die Beratungsstelle des Dopingopfer-Hilfe-Vereins, konkret Birgit Boese, helfen können?

Indem sie mich noch einmal angerufen hat und mich ermutigt hat, den Antrag zu stellen.

Mitte Januar gab es nur 31 Anträge, zu diesem Zeitpunkt wurde, da mit bis zu 500 Meldungen gerechnet wurde, bezweifelt, dass es flächendeckendes Doping in der DDR gegeben habe.

Solche Bemerkungen sind völlig flach, weil immer ein persönliches Schicksal dahinter steht. Die meisten, die ihre stille Post in Köln eingereicht haben, haben schon genug mit sich gerungen, den Schritt überhaupt zu gehen.

Haben Sie sich mit Exsportlern beraten und gegenseitig zum Schritt ermutigt?

Nein. Ich telefoniere natürlich mit Leuten, die man von früher noch kennt, aber das muss jeder ganz persönlich klären. Ich habe sogar Verständnis, wenn jemand keinen Antrag gestellt hat, weil er sich diesem Druck nicht mehr aussetzen wollte.

Ist das Problem der Dopingopfer mit dem Ablaufen der Frist am 31. März erledigt?

Die Sache ist mit den paar Euro keinesfalls erledigt. Es muss weitergehen. Die Schäden bleiben doch bestehen. Wie ist es etwa mit einer Rentenzahlung für die schwer Betroffenen. Die Auszahlung der zwei Millionen ist nicht mehr als ein symbolischer Akt.