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: HELMUT HÖGE über Guben/Gubin

Irgendwann liegt die Stadtgrenze bei Berlin

Anfangs denkt man so: Die kleine Neiße als Grenze zwischen Guben und Gubin ist wirklich Scheiße – ein richtiger Grenzfluss, mit uniformierten und bewaffneten Kontrolleuren auf beiden Seiten der Brücke, die nur noch eine tote Pufferzone ist. Aber dann merkt man schnell, dass ein Spaziergang von einem Teil der an sich langweiligen und halbtoten Stadt in den anderen gerade dadurch interessant wird – und geht immer öfter hin und her, bis zu 10-mal am Tag: Jedes Mal wird kritisch das Passfoto mit dem momentanen Gesicht verglichen, der Fahndungscomputer angeschmissen, manchmal das Gepäck kontrolliert, und dabei tun alle Beamten so, als wären sie überhaupt nicht von der Harmlosigkeit desjenigen überzeugt, der sie da gerade verschämt anlächelt. Als könnten sie auch ganz anders!

Zumal die Grenzbewachung hier das einzig expandierende Gewerbe weit und breit ist! Die Lausitzer Region scheint ansonsten ihr Pulver verschossen zu haben: erst die Braunkohle – in den Himmel und dann die Fördermittel – in Stadt- und Landschaftsplanung. Jetzt – am Ende der Nahrungskette sozusagen – lässt man aus lauter Verzweiflung Naturschutzverbände dort tätig werden. Und was machen die? Sie siedeln Wölfe und Wildkatzen an! Ja, der Tag ist nicht mehr fern, wo das letzte Kulturfestival „Le Weekend“ in Guben/Gubin vor einem Publikum stattfindet, das mehrheitlich aus Schakalen und Krähen besteht, die ja bekanntlich besonders neugierig sind. Noch ist es aber nicht so weit: Es gibt zwar keine industriellen Arbeitsplätze mehr, und das einzig blühende Dorf – Horno – hintendran wird gerade zügig weggebaggert, aber die Doppelstadt an der Neiße behält listig ihre 30.000 Einwohner, indem sie nach jedem Wegzugsschub einfach drei weitere Dörfer eingemeindet.

Irgendwann verläuft die Stadtgrenze Gubens/Gubins an der Berliner. Denn hier verfolgt man dieselbe EU-Städteförderungspolitik – und die ist mit der EU-Agrarpolitik identisch: Je größer eine Wirtschaftseinheit, desto mehr Förderung gibt es. Auch „Le Weekend“ wird üppig von Staat und Stiftungen gesponsort: „Die Sozialbrache wird ja immer mit Kultur eingedeckt“, meint die Veranstalterin Saskia Draxler.

Der Initiator Gregor Mirwa sieht es positiv: „Ich mach das jetzt zum vierten Mal und es geht darum, dass die Leute zusammenkommen und miteinander reden – dass also doch etwas bleibt hier, trotz des Weggangs so vieler Leute.“ Dazu gehört er inzwischen selbst: Mirwa war zuletzt Arbeitsmediziner im ausgegründeten Medizinischen Dienst des Gubener Chemiefaserwerks: Jetzt lebt er als arbeitsloser Schriftsteller in Berlin. Er bleibt jedoch der „Schrumpfstadt“ mit seinem „Le Weekend“ verbunden. Anders die nomadische Künstlerin Saskia Draxler, die es vor allem auf „Kontext-Arbeiten“ in Großstädten abgesehen hat. In Guben/Gubin stand heuer Joseph Conrads Kongoklopper „Im Herzen der Finsternis“ im Zentrum der doppelstädtischen Kommunikation. Und ähnlich wie in dem als zu altmodisch empfundenden Kolonialdrama kam es auch dabei mitunter in den Diskussionen – die in einem vom Kunstprojekt angemieteten leeren Modeladen nahe der Grenzbrücke stattfanden – zu durchaus rassistischen Einschätzungen (hier jedoch gegenüber Polen). „Heute sind wir tolerant – und morgen fremd im eignen Land“, diese Neonaziparole, die in Guben an manchen Zaunpfählen winkt, hat sich anscheinend auch in so manches bange Gubener Herz gesenkt. Konkret befürchtet man, dass die Leute in Gubin, wo mehrere Großbetriebe dichtmachten und der Bahnhof geschlossen wurde, sich ebenfalls in Richtung Westen in Bewegung setzen und ihnen die letzten Arbeitsplätze wegnehmen.

Dabei kommen sie nicht einmal mehr ins Gubener Stadtbad, denn sie haben jetzt ein eigenes, ebenso auch ein McDonald’s Drive-in. Das haben nicht mal die Gubener, die deswegen jetzt immer schweren Herzens extra rübertigern müssen. „Das hat unser Bürgermeister verbockt“, sagen sie – und wählten ihn herzlos ab. Aber ansonsten ist Guben/Gubin immer eine Doppelreise wert, ganz besonders am „Le Weekend“, alle zwei Jahre. Beim letzten Mal wurde eine Zeitung, die von Gubener und Gubiner Gymnasiasten gemacht wurde, anschließend der taz beigelegt. Auch diesmal wird es wieder eine Dokumentation geben, jedoch von den drei Medienverantwortlichen des Projekts zusammengestellt.