Nicht ohne meine Mutter

Literarischer Reißverschluss: Urs Widmers großartiger neuer Roman „Das Buch des Vaters“

VON SEBASTIAN DOMSCH

Mutterbücher sind ein heimlicher Trend der neuesten deutschsprachigen Literatur. Seit Urs Widmers „Der Geliebte der Mutter“ aus dem Jahr 2000 lassen sich das preisgekrönte „Muttersterben“ des Michael Lentz und Jürg Amanns „Mutter töten“ dazu zählen. Widmer aber belässt es, wie sich jetzt zeigt, nicht bei der Mutterbewältigung, die bei ihm, wie fast alle seine Werke, auch eine Schweizbewältigung ist.

Kaum ein Rezensent von „Der Geliebte der Mutter“ unterließ es damals, auf das merkwürdige Fehlen des Vaters hinzuweisen. Obwohl es einen Vater in dieser Geschichte gegeben haben musste, blieb er in Widmers Roman eine Leerstelle, ein konsequent blinder Fleck. Wie um dieses Rätsel zu lösen, präsentiert uns Widmer nun als Spiegelgeschichte „Das Buch des Vaters“. Die beiden Romane sind ein literarischer Reißverschluss, ein komplexes Puzzle mit nur zwei Teilen. Was in dem einen Teil ausgespart ist, das liefert der andere nach und umgedreht. Denn diesmal berichtet der Erzähler vom Leben seines Vaters, von dessen Begeisterung für die französische Literatur, deren Übersetzung zu seiner Obsession wird, und wenn auch die Ehefrau respektive Mutter Clara hier öfter erwähnt wird, bleibt sie doch weitgehend außen vor.

Überhaupt dringt mit Ausnahme der Literatur nichts wirklich bis zum Vater vor. Kettenrauchend verschleißt er eine Schreibmaschine nach der anderen mit Übersetzungen, Lehrbüchern oder Kolumnen. Selbst in seiner Zeit als Soldat während des Zweiten Weltkriegs, in einer von säbelrasselnden Feinden umgebenen Schweiz, stauen sich in ihm nicht Invasionsängste, sondern im Kopf übersetzte Sätze, die nach der Heimkehr zuerst in einer gewaltigen Ejakulation in die Maschine gehämmert werden müssen, bevor er Frau und Kind begrüßt.

„Das Buch des Vaters“ ist sogar noch besser als sein vielstimmig gelobter Vorgänger, denn es ist noch widmerscher. Hinter dem Geliebten der Mutter verbarg sich der reale Paul Sacher, der eben nicht nur eine, sondern einige Geliebte in seinem langen Leben hatte, ein berühmter Dirigent und der reichste Mann der Schweiz – ein Eckpfeiler schweizerischer Boulevardblätter. Das mag abgefärbt haben. Das Leben imitiert die Kunst, wie schon Oscar Wilde wusste, und so erschien gerade das Authentische an der Beziehung von Clara und ihrem Liebhaber Edwin nicht ganz frei von Kitsch. Dass wir es jedoch nicht mit einer profanen Klatschstory zu tun hatten, sondern mit einem weiteren Bericht aus Widmerland, in dem kraushaarige Nachkommen eines mythischen Negers ein faschistisches Weingut führen, ging im Mutterbuch bisweilen unter.

Das kann einem beim neuen Widmer nicht passieren, auch wenn hier ebenfalls im fiktiven Vater Karl der reale Vater Walter aufscheint. Schon der Einstand mit dem Besuch Kaiser Wilhelms II. ist von gewohnter Ironie, und spätestens bei der Initiation des zwölfjährigen Vaters in die Dorfgemeinschaft seiner Vorfahren geraten die Grenzen zwischen biografischer Strenge und dichterisch skurriler Fantasie ins Schwimmen. Was ist das für ein Dorf, in dem vor jedem Haus genau so viele Särge stehen, wie es Einwohner hat, geduldig wartend, und das jedem Buben, wenn er alt genug ist, ein leeres Buch gibt, in das er von nun an jeden Tag seines Lebens aufschreiben muss, um es nach seinem Tod dem eigenen Sohn zu lesen zu geben.

Es gibt also mehr als nur ein Buch des Vaters, doch das ursprüngliche, echte fällt Clara zum Opfer, die, kaum verwitwet, das Arbeitszimmer ihres Mannes mit wütender Gründlichkeit auf den Müll entsorgt. Dem Sohn und Erzähler sind nur ein paar flüchtige Blicke in das Buch vergönnt, dann ist es auch schon weg. Es bleibt ihm nichts anderes übrig, als den Verlust durch die eigene Erzählung auszugleichen.

Wer angesichts dieser Standardsituation postmodernen Schreibens aufstöhnt, dem sei gesagt, dass Widmer sie sehr zurückhaltend einbringt in sein großartiges Buch, das von der überragenden Fähigkeit des Autors getragen wird, große Eindringlichkeit mit ironischer Distanz zu vereinen. Widmer setzt seine Mittel wie immer sparsam, aber meisterhaft ein und fügt seinem einzigartigen Erzählkosmos einen weiteren vergnüglich-melancholischen Baustein hinzu.

Doch so hervorragend „Das Buch des Vaters“ auch ist, der Roman, der sich aus der Lektüre beider Bücher ergibt, ist größer als die Summe seiner Teile. Isoliert betrachtet entsprechen sie vielen bekannten Versuchen, sich erzählerisch der Vergangenheit zu nähern. Indem aber beide Romane jeweils auf etwas verweisen, was der andere ungesagt lässt, erzeugen sie ein unauslotbares Spannungsfeld. Während jeder Roman für sich betrachtet die Möglichkeit erzählerischer Rekonstruktion beinhaltet, offenbart ihr Zusammenwirken ein Eingeständnis ihrer Unmöglichkeit. Damit kommt nur ein Autor durch, der so gut schreibt wie Urs Widmer.

Urs Widmer: „Das Buch des Vaters“. Diogenes Verlag, Zürich 2004, 208 Seiten, 19,90 Euro