Henning Scherf auf der Flucht

Kaum einer wusste Bescheid, aber alle hätten es ihm zugetraut: Henning Scherf wäre fast Chef der Bundesagentur für Arbeit geworden. Am Tag Eins nach dem Beinahe-Abgang war das politische Bremen betreten – von den Ambitionen des Chefs

Bremen taz ■ „Überrascht“ ist das Wort, das gestern am häufigsten ausgesprochen wurde. Überrascht waren alle im politischen Bremen, als sie gestern aus überregionalen Blättern und aus dem Fernsehen erfahren hatten, dass ihr Bürgermeister Henning Scherf allen Ernstes als Vorstand der Bundesagentur für Arbeit (BA) im Gespräch war (siehe taz von gestern). Nur Scherf selbst und eine Handvoll Auserwählter im Rathaus und im Sozialressort waren eingeweiht, dass der Chef erwog, seine Stadt zu verlassen.

Inzwischen ist die Sache für Scherf erledigt. Der Verwaltungsrat der BA hat gestern einstimmig Frank-Jürgen Weise zum Nachfolger des abgesetzten Florian Gerster vorgeschlagen. Zuvor hatten Bundeskanzler Schröder und Bundeswirtschaftsminister Clement sich gegen einen Politiker an der Spitze der Behörde ausgesprochen. Weil, so erzählt man sich, die Bundesregierung keinen Mann aus dem eigenen Lager in diesem kritikanfälligen Amt haben wollte.

Bis dahin wollten alle im BA-Verwaltungsrat den Mann aus Bremen. Ursprünglich sei Scherf vom Arbeitgebervertreter Peter Clever angesprochen worden, so heißt es. Dessen Idee fand offenbar Zustimmung bei den Vertretern von Gewerkschaften und öffentlichen Körperschaften.

Arnold Knigge, Staatsrat im Sozialressort und Vertreter im Verwaltungsrat, erklärte gestern, er sei von der Idee „natürlich auch erstmal überrascht“ gewesen. „Aber ich traue Henning Scherf diese Aufgabe ohne weiteres zu“, so Knigge weiter, gestern sei er noch mehrfach positiv auf Scherf angesprochen worden.

Scherf wollte gehen. Das glauben in Bremen viele – nur zitieren lassen will sich niemand. Und die Interpretationen differieren. Er wäre nicht gegangen, ohne das zu erfüllen, wofür er seit Jahren steht, sagen die einen: Die Einlösung des Kanzlerbriefs, der mit 500 Millionen Euro bezifferten Garantie, dass der Bund dem Land die Nachteile aus der Steuerreform ausgleiche. Das wäre Scherfs Preis für seinen Gang nach Nürnberg gewesen. Andere sagen, der Mann wolle wohl einfach nur weg – und das vor 2005, wenn es ernst und vielleicht eng wird mit den Kanzlermillionen und dem verfassungskonformen Haushalt.

Es ist nicht das erste Mal, dass Henning Scherf für Bundesaufgaben gehandelt wird: Auch als Bundespräsident war er im Gespräch, doch angesichts der CDU-Mehrheit in der Bundesversammlung ohne Chance.

Gestern befanden sich Henning Scherf und sein Sprecher Klaus Schloesser auf dem Weg nach Aachen, wo Scherf heute der „Orden wider den tierischen Ernst“ verliehen wird. „Soviele Wenns und Abers“ habe es in der BA-Sache gegeben, so Schloesser gestern, mit Scherf habe man „einen großen Brückenbauer und Konsenskünstler“ an der Nürnberger Spitze gewollt. Wenn sein Chef tatsächlich einen Ruf erhalten hätte, „hätte er sich richtig gequält“, so Schloesser weiter – einerseits damit, einer Aufforderung von Bundesebene nachzukommen, andererseits genau das den Bremern zu vermitteln. Die Nachrichtenagentur AP zitierte gestern Arbeitgebervertreter Clever mit den Worten, Scherf habe sich bereiterklärt, den BA-Vorsitz zu übernehmen. Von Wenns und Abers keine Rede.

Henning Scherf sei längst wieder bei anderen Dingen, so sein Vertrauter Schloesser. Dass Scherf nun „fröhlich weiter für Bremen“ arbeite, hatte er schon am Tag zuvor verkündet.

So fröhlich wie Scherf waren gestern die wenigsten in Bremen. Jens Böhrnsen, SPD-Fraktionschef und derzeit heißest gehandelter Kandidat für die Rathaus-Nachfolge, war für eine Stellungnahme erst gar nicht zu sprechen. Er wusste offenbar nichts von Scherfs Abwanderungsgedanken. SPD-Fraktionsgeschäftsführer Martin Prange erklärte, man sei von der Causa Scherf überrascht worden. „Wir haben Verständnis dafür, dass unser überaus populärer Bürgermeister für diese Aufgabe im Gespräch ist.“ Aber, so Prange im selben Atemzug, „wir sind sehr zufrieden, dass er uns erhalten bleibt.“ Denn „mit Scherf sind wichtige Projekte verbunden, insbesondere das des Kanzlerbriefs und seiner Lösung“.

Sehr viel klarer formuliert das Bernd Neumann, CDU-Landeschef und mit Scherf Schmied der großen Koalition. „Ich wusste davon nichts, aber ich hätte auch nichts davon gehalten.“ Scherf mache seine Aufgabe „prima“ – „aber deshalb ist er noch längst nicht für alle Positionen geeignet.“ An der Spitze der BA sei einer gefordert, der sich in Strukturen einarbeite, sie umgestalte, „das“, so Neumann, „bedarf eines ganz anderen Profils.“ Und, viel wichtiger: „Henning Scherf muss, wenn er geht, hier erst seine Schularbeiten erfüllen.“ Scherfs „Hauptaufgabe“ sei, „die Zusage seines Freundes Schröder zu realisieren.“ Schließlich habe die CDU sich einst nur aufgrund dieser Zusage zur Zustimmung zur Steuerreform im Bundesrat bewegen lassen. „Er ist der Einzige, der das umsetzen kann.“

Nein, düpiert fühle sich die CDU nicht. Ins Gespräch gebracht zu werden und es tatsächlich zu tun, seien zweierlei, so Bernd Neumann. „Es mag verlockend scheinen zu gehen. Aber das geht nicht. Das haben wir Henning Scherf gesagt. Das weiß er auch.“ Susanne Gieffers