Mythen reiten rückwärts

Die Erfindung einer Nation: Ron Howards Wettbewerbsbeitrag „The Missing“ füllt alten Wein in schöne Schläuche; nicht nur seine Indianer wirken wie aus der Mottenkiste des 19. Jahrhunderts

Mit Ron Howards „The Missing“ kehrt die Grenze ins Kino zurück. Sie bringt ihre Mythen und ihr Personal mit, die Siedler, die Indianer, die Mexikaner und schließlich die Abgesandten der fernen Staatsmacht. Je bürokratischer die sich aufführen, umso klarer tritt zutage, dass für Recht und Ordnung besser jeder selber sorgt. Dazwischen reitet kein Cowboy, sondern ein alter, müder Mann: Samuel Jones (Tommy Lee Jones).

Jahrzehnte bevor Ron Howards Film „The Missing“ beginnt, hat er sich davongemacht, um als Weißer bei den Apachen zu leben; seine Familie ließ er damals zurück. Weil sein Passing – der Übertritt von der vorgesehenen in die unvorhergesehene Welt – nicht ohne Folgen bleiben darf, büßt seine Tocher, die Farmerin Maggie (Cate Blanchett), indem sie einer recht ungewöhnlichen Patchwork-Familie vorsteht. Jones selbst wiederum büßt, weil ein Mann ohne Familie, wie er sagt, auch bei den Apachen nur ein halber Mann sei.

Im New Mexico des Jahres 1885 findet Ron Howard das Terrain, wo Zivilisation und Barbarei Tag für Tag neu ausgefochten werden. Hier entwirft die junge Nation sich selbst; hier schafft sie ihren Untertanen eine Heimat; hier hat die Kamera so viel Auslauf, dass sie wie ein junger Hund durch Canyons und über Hochebenen tollt. Die erdigen Farben, der in der Sonne schimmernde dünne Schnee der ersten Szenen, der weite Himmel: Das alles ist kinematografisches Terrain par excellence.

Aber ist das genug? Die Prämissen des Westerns haben mit den Parodien und den Antiwestern der 60er- und 70er-Jahre eine so gründliche Revision erfahren, dass es keinen Status quo ante mehr gibt. Der Gründungsmythos von Landnahme und Urbarmachung hat eine Schattenseite. Was den einen die neue Heimat, war den anderen Verlust: Die Indianer zahlten mit ihrem Leben, die Mexikaner mit Diskriminierung oder Vertreibung. Diese Schattenseiten zu verschweigen, hieße, das Comme il faut des Erinnerungsdiskurses zu verfehlen; es hieße, sich auf die Seite rückwärts gewandter Partikularinteressen zu schlagen.

Zwar gibt sich „The Missing“ sichtlich Mühe, den veränderten Prämissen gerecht zu werden. Ein Indiz dafür ist die Dreisprachigkeit. Cate Blanchett redet Englisch und Spanisch, Tommy Lee Jones beherrscht die Apachen-Sprache Chiricahua. An anderen Stellen jedoch hat die sanfte Modernisierung seltsame Verschiebungen zur Folge: Maggie etwa ist die Rückprojektion einer modernen, toughen, berufstätigen single mom; ihr Vater wirkt wie ein in New Age und Unwürde ergrauter Hippie und bezeugt damit vor allem die Krise gegenwärtiger Männlichkeit.

Die Indianer lässt Howard von Pesh-Chidin (Eric Schweig) anführen, einer Figur, der die Bösartigkeit in Gestalt dunkler Male schon unter die pockennarbige Gesichtshaut geschrieben ist. Über seine langen, im Höllenfeuer rußschwarz angelaufenen Fingernägel ist damit noch nichts gesagt. Auch die anderen indianischen Figuren hat der Regisseur aus der Mottenkiste des 19. Jahrhunderts gekramt: Edel ist der Wilde, solange er unberührt bleibt von der Zivilisation; böse wird er, sobald er Kontakt zu den Weißen pflegt. Denn Kontakt kontaminiert – so lautete damals die Formel des wissenschaftlich verbrämten Rassismus.

In „The Missing“ rauben die bösen Wilden junge Mädchen, um sie jenseits der Grenze an Mexikaner zu verkaufen. Eine Art der Wiedergutmachung, sagt einmal einer der Apachen. Das ist ein vermessener und trostloser Satz. „The Missing“ vergisst ihn, kaum dass er ausgesprochen ist. In Vergessenheit gerät dabei auch der Film, den Howard hätte drehen können, hätte er die Trostlosigkeit nur einen Augenblick lang ernst genommen.

CRISTINA NORD

Samstag, 22.30, Berlinale-Palast. Sonntag, 15.00, Royal Palast