Der lange Weg aus Mitte

Baulöcher, Brautmodengeschäfte und Bestattungsinstitute. Frisuren für die ganze Familie und Fachgeschäfte für den Orthopädiebedarf: Die Berliner Chausseestraße, ehemals Shopping-Meile und erste Adresse für Kultur in der DDR, hat nie wirklich den großen Anschluss geschafft. Ein Spaziergang

VON RENÉ HAMANN

In gewisser Weise ist die Chausseestraße die berühmteste Straße Berlins. Sie ist nämlich die einzige Straße, die es in die internationale Ausgabe von Monopoly geschafft hat – wenn man denn annehmen möchte, dass wirklich sie gemeint ist und keine andere. Im Gegensatz zur amerikanischen Urfassung, die sich aus Straßen eines bekannten Viertels in Memphis zusammensetzt, gibt es für die deutschen Version keine reale Vorlage. In der alten Ausgabe kostete sie 2.000 Mark. Von ihrem Spielwert ahnten die Bewohner der Chausseestraße lange nichts. Monopoly war in der DDR verboten, da es als spielerische Einführung in den Kapitalismus galt. Selbst sich erinnern half nicht – bereits die Nazis hatten das Spiel vom Markt nehmen lassen, aus welchem Grund auch immer.

Geht man heute vom Oranienburger Tor aus die Chausseestraße hoch, fällt als Erstes der prärenovierte Zustand der meisten Häuser auf. Im Gegensatz zur Torstraße oder zur marginaleren Brunnenstraße hat die ehemalige Shopping-Meile der DDR nicht wirklich vom Mitte-Bonus und den Geldern für den Wiederaufbau profitiert. Abgesehen von ein paar Suppenanbietern und Coffee-Shops, die die Mittagspausen mutmaßlicher Mitte-Jobber auszufüllen versuchen, macht sich provinzielle Tristesse breit: Ein etwas schickeres Brautmodengeschäft, vor allem Frisuren für die ganze Familie, Fachgeschäfte für den Orthopädiebedarf und jede Menge Bestattungsinstitute.

Links taucht der Neue Berliner Kunstverein auf – eines der letzten Überbleibsel auf der Route Richtung Norden, das noch daran erinnert: Vor 1989 war die Chausseestraße eine gute Adresse für hohe Kultur, heute droht zumindest in dieser Beziehung ihr Niedergang. Wolf Biermann hat einmal hier gewohnt, der Dorotheenstädtische Friedhof, wo Bertolt Brecht sich ewiglich ärgern darf, ausgerechnet neben Johannes R. Becher zu liegen, ist auch hier. Der Friedhof pflegt seine Pariser Atmosphäre, karg und angenehm ungepflegt. Im Brechthaus dagegen warten Stühle oft vergeblich auf die abendlichen Lesungen, der angeschlossene Buchladen hat dichtmachen müssen.

Auf der Straße lärmen Bauarbeiter. Selbst einigen Tauben ist es zu laut. Sichtlich aufgeregt schwirren sie ab. Bäume gibt es so gut wie keine in der Chausseestraße. Dafür Oberleitungen für die Tram, auf der sich ein paar Krähen Überblick verschaffen. Nach dem Brechthaus ist es mit der Kultur auf der Chausseestraße vorbei, was jetzt noch an Kulturorten kommt, heißt „Hafenbar“ oder „Chausseegrill“ und nur, wer schon einmal abends hier war, weiß: Weiter hinten gibt es den einzigen guten Club auf weiter Flur, das Rio.

Glasbauten und wuchtige Klötze, Banken und irgendwelche Ämter sind zwischen die Häuser aus der Gründerzeit geklemmt. An der Kreuzung zur Invalidenstraße öffnet sich ein kleiner Panoramablick, ein Bus fährt zur Baustelle Lehrter Stadtbahnhof, rechts verlaufen sich Touristen im Niemandsland der Invalidenstraße. Die unsichtbar gewordene Mauer ist nicht mehr weit. Was langsam spürbar wird.

Der Autoverkehr ebbt ab. Man gerät an den Rand von Mitte. Kurz vor der Tankstelle an der Haabersaathstraße kommt noch ein Hostel mit „Ballhaus“, vor dem ein paar gelangweilte Mädchen auf Plateauschuhen herumstehen und billige Zigaretten rauchen. Danach nur noch einzelne abgerissene Häuser mit viel Ödnis dazwischen, den typischen Berliner Brachflächen. Und hinter der Tankstelle das Mare Crisium der alten, neuen Mitte: der City-Golfplatz. Im Winter ist keine Saison, das Wetter zu schlecht, niemand schlägt einen Ball ins Gelände, in dem sich einst das „Stadion der Weltjugend“ befand. Nach dessen Abriss versuchte hier ein Sportartikelhersteller Kunden zu ziehen. Vom Weltniveau zum Amateurstadtgolfen in zehn Jahren. Demnächst soll der BND kommen.

Langsam geht die DDR zu Ende. Überschreiten wir die imaginäre Grenze, die beiden Steinreihen, die vom „Weltkulturerbe Berliner Mauer“ künden, und treten in den Wedding. Jetzt ist die Chausseestraße nur noch hundert Meter lang, danach wird sie zur Müllerstraße und verschwindet in der Tiefe des Arbeiterviertels. Das Gefühl, dass der Westen nicht hielt, was er versprach, lässt sich nirgends besser beobachten als in Köln und hier.

Was muss das für ein Schock gewesen sein 1989, als die Ostler hier zum ersten Mal den westdeutschen Plattenbau aus der Nähe zu sehen bekamen! Alles mindestens ebenso trist, ebenso heruntergekommen wie im Osten. Auf der linken Straßenseite Hochbunker, die Parkhäuser sein sollen, rechts vergammelt eine Wohnbatterie aus den Siebzigerjahren für 120 Mietparteien. Pro Fenster mindestens ein Satellitenempfänger. Auf dem Mond kann es nicht besser aussehen.