Angst vor Mutters Mänteln

Am Stadttheater Bremerhaven inszenierte Wolfgang Hofmann mit Grillparzers „Medea“ ein selten gespieltes Stück, das vor dem Hintergrund des „Krieges der Kulturen“ hohe Aktualität gewinnt

Hofmann verdichtet den Stoff zu einem streng stilisierten Kammerspiel

„Seit wann dient eine Sklavin der anderen?“, fragt Gora, die Amme der Königstochter Medea, ihre Herrin. Medea, Zauberin aus dem Land der Barbaren, ist dem Argonauten Jason in dessen Heimat gefolgt, und anfangs vergräbt sie alle Zeichen der Fremdheit – aus Liebe zu Jason und um der Diskriminierung zu entgehen. Der antike Medea-Mythos ist seit Euripides bis zu Hans Henny Jahnn und Heiner Müller Parabel für die Lust und die Angst dem Fremden gegenüber, für die Kolonisierung dessen, was der zivilisierte Mensch als barbarisch begreift.

Wolfgang Hofmann, Oberspielleiter am Stadttheater Bremerhaven, hat Grillparzers wenig gespielte Bearbeitung des Stoffes aus der Museumskiste der Theaterliteratur gezogen, und niemand hat bei der Spielplangestaltung wissen können, wie sehr jede Inszenierung dieses Stückes plötzlich aufgeladen würde mit aktuellem Hintergrund.

Das Unternehmen hätte am Übermaß theatralischer Emotionen scheitern können, wenn Hofmann nicht für die beiden extremen Figuren zwei außerordentliche Darsteller zur Verfügung hätte.

Isabella Wolf ist Medea und hat hier zu ihrer bisher stärksten Rolle gefunden. Ihre Medea ist von Anfang an die Fremde, sie zeigt in allen Nuancen das Zerrissene und den Schmerz, die Gebrechlichkeit und die Stärke dieser Frau. Die äußerlichen Anzeichen – die wilde Haarpracht, die Tattoos auf Bauchnabel und Schultern, der hochgeschlitzte Rock – wirken keineswegs aufgesetzt. Diese Medea erinnert in ihrer großen Glaubwürdigkeit an eine andere Medea: an Maria Callas in Pasolinis Verfilmung von 1969.

Und wie Pasolini die Verurteilung der „Barbarin“ zurücknimmt, so ist auch in Hofmanns Inszenierung die Sympathie für Medea eindeutig. Jason (Ulrich Gall) hat Angst vor ihr, die beiden gemeinsamen Kinder befremden ihn. Ihre unförmigen Filzmäntel begreift er als Zeichen ihrer barbarischen Mutter. Später werden sie in elegante Smokings gesteckt und mit kindergroßen Teddys spielen.

Medea und Jason werden in Korinth von König Kreon aufgenommen. Sie sind auf der Flucht, denn ihnen wird der Tod von Jasons Onkel angelastet. Aber Kreon (Roberto Widmer) ist vor allem Diplomat. Um es sich mit den Nachbarn nicht zu verderben, rettet er Jason vor ihrem Fluch, indem er ihn mit seiner Tochter verheiratet und Medea aus Korinth verbannt. Im Königspalast – von Lars Peter ebenso elegant wie funktional im Stil der Bauhaus-Moderne angelegt – soll Medea am Flügel die Weihen der Zivilisation erhalten, um doch nur wegen ihrer Unfähigkeit erniedrigt zu werden.

Hier entscheidet sich Jason unter dem Druck der Umstände für Kreons Tochter und für den Verrat an seiner Frau. Medea verwandelt sich in die Rächerin, die Kinder und Konkurrentin tötet.

Wolfgang Hofmann verdichtet auf der Bühne des Großen Hauses den bekannten Stoff zu einem streng stilisierten, minimalistisch angelegten Kammerspiel. Ulrich Gall – ebenbürtiger Partner für Isabella Wolf – verkörpert den Typ des soldatischen Eroberers, aber wenn er um seine ermordeten Kinder weint, wirkt seine Verlorenheit ebenso echt wie Medeas Schmerz- und Rachegefühle.

Grillparzers Drama mit seinen für heutige Ohren teilweise gestelzten Versen ist große Oper in Worten, und Hofmann hat sich mit musikalischen Zwischenspielen weise zurückgehalten. Er verzichtet auf dekorative Effekte und setzt stattdessen auf die Spannungen zwischen den Figuren, auf den (un)heimlichen Krieg zwischen Medea und Jason, der in Andeutungen und ersten Rissen zu spüren ist, bis er plötzlich ausbricht.

Zweieinhalb Stunden intensives Schauspieler-Theater, in dem Zorn, Empörung, Verzweiflung, extreme Schmerzen freigelegt werden, in dem – ohne explizit oder vordergründig davon zu sprechen – der „Krieg der Kulturen“ zum Thema wird, das ist mehr als ein mutiger Versuch: Wolfgang Hofmann ist ein großes Stück Theater gelungen.

Hans Happel

Nächste Vorstellungen: 9., 15. und 25. April um 20 Uhr, 18.4. um 19.30 Uhr, Stadttheater Bremerhaven