Die falsche Toleranz

Der Migrationsforscher Ralf Ghadban kritisiert die überholten Grundlagen der Ausländerpolitik inder Stadt. Seit 20 Jahren betreut er Zuwanderer und Flüchtlinge: „Die Kluft ist größer geworden“

Interview ADRIENNE WOLTERSDORF

taz: Seit gestern hat Berlin einen Nachfolger für Barbara John als Ausländerbeauftragte. Welches sind die wichtigsten Themen, denen sich Günter Piening widmen sollte?

Ralph Ghadban: Die wichtigste Aufgabe ist, die im Berliner Migrantenmilieu entstandene tiefe Kluft zwischen Familie und Schule aufzuheben. In den letzten 15 Jahren ist die Kluft zwischen den beiden Sozialisationsinstanzen immer größer geworden. Eigentlich sollten sich Familie und Schule ergänzen. Heute arbeiten beide Instanzen aber gegeneinander.

Woran machen Sie das fest?

Daran, dass rund 40 Prozent der ausländischen Jugendlichen, das sind in Berlin ja überwiegend Türken, die Schule ohne Abschluss verlassen. Ursprünglich dachte man, dass sich die dritte und vierte Migrantengeneration wesentlich besser integriert haben würde. Das Gegenteil ist aber der Fall, wir erleben sogar mehr Desintegration. Da muss etwas getan werden.

Worin sehen Sie die Hauptursachen dieser Entwicklung?

Die hiesige Ausländerpolitik basiert auf der Annahme einer essenzialistischen Form des Multikulturalismus, der die Differenzen akzeptiert, ohne nach ihrer Kompatibilität mit den Grundlagen unserer Demokratie zu fragen. Diese Form ist aber gescheitert, denn manche Migrantengruppen isolieren sich gegenüber der deutschen Gesellschaft. Das haben die Holländer schon Mitte der 90er-Jahre erkannt und dementsprechend gehandelt. Sie setzen mehr auf Gemeinsamkeiten als auf Differenzen. Daher entstanden die Sprach-Pflichtkurse für Migranten.

Was resultiert aus dieser Ihrer Meinung nach überholten Politikgrundlage?

Zum Beispiel die Politik gegenüber den religiösen Vereinen und Moscheevereinen hier in Berlin.

Ist die Toleranz gegenüber dem Islam denn so falsch?

Mehr noch als Toleranz ist Akzeptanz eine Pflicht. Die Religionsfreiheit ist Bestandteil unseres Grundgesetzes. Die Toleranz hört aber auf, wenn die Religion Desintegration und die Ablehnung der deutschen Gesellschaft durch viele Migranten erzeugt. Der Hintergrund ist der, dass die verfehlte Integration der 60er- und 70er-Jahre schließlich in den 80ern zur Selbstabgrenzung der Migranten führte. Für diesen Prozess boten sich die Ideologien der Islamisten an. Deshalb haben ihre Organisationen so einen Zulauf. In den 90ern folgte schließlich, dass diese Organisationen von staatlicher Seite akzeptiert wurden. In Berlin ist das extremer als anderswo.

Woran liegt das?

Das hat mit der langjährigen Politik von Barbara John zu tun. Sie hat die religiösen Vereine und die Moscheevereine als gemeinnützige Vereine unterstützt, ohne sich die Frage zu stellen, inwieweit solche Vereine Integrationsarbeit leisten.

Verstehe ich Sie richtig? Sie meinen, den Islamisten in Berlin wurde von staatlicher Seite der Boden bereitet?

Das kann man auch so formulieren. Im Namen eines falsch verstandenen Multikulturalismus wurden die islamistischen Organisationen als Partner akzeptiert und finanziell unterstützt. Das führte dazu, dass die Sozialarbeit unter den Ausländern, wie zum Beispiel Beratung, Frauen- und Jugendarbeit, sich in die Moscheevereine verlagerte. Es wäre aber wichtig, dass gerade diese Beratungsarbeit – als Element der Integration – auf säkularer Basis stattfindet. Durch die wachsende Stärke der Moscheevereine wird in den muslimischen Familien die traditionelle Erziehung begünstigt. Die Abkapselung wird also im Namen der Religionsfreiheit unterstützt.

Das wäre ja ein Scheitern auf ganzer Linie?

Die Verdienste von Barbara John sind unbestreitbar. Vor allem ist es ihr gelungen, den Migranten das Gefühl zu vermitteln, dass sie zu der hiesigen Gesellschaft gehören – also eine Voraussetzung für Integrationsarbeit. In mancher Hinsicht war sie aber zu unkritisch. Bis zuletzt hat sie Verständnis für die fundamentale Kritik der Islamisten an unserer Gesellschaft gezeigt. Gleichzeitig hat sie keinen kritischen Dialog angeboten. Ich hoffe, der neue Ausländerbeauftragte setzt auf Dialog mit den Vertretern eines fundamentalistischen Islam und belässt es nicht bei einem kritiklosen Verständnis.

Wie könnte so ein Dialog funktionieren?

Wir müssen die Probleme bei der Auffassung von Erziehung und Religionsausübung ansprechen. Das hat es bislang nicht gegeben. Zunächst müssen aber zwei Punkte geklärt werden. Inwieweit ist es die Aufgabe des Steuerzahlers, religiöse Aktivitäten von Migranten zu finanzieren? Barbara John, als CDU-Mitglied, hat in den 80er-Jahren ganz genau auf die politische Orientierung der zu fördernden Migranten-Projekte geguckt. Linke Organisationen hat sie nicht unterstützt. Genau die haben sich aber für Integration und den säkularen Staat eingesetzt. Dann unterstützte John alle religiösen und konservativen Vereine, auch die, die gegen den säkularen Staat sind.

Religiösen Organisationen steht es aber doch zu, als Verein Sozialarbeit zu leisten. Soll man die nicht mehr unterstützen?

Wie andere Träger auch haben sie das Recht dazu. Aber wie bei anderen Trägern auch muss genau hingeschaut werden, ob und wie sie das Grundgesetz akzeptieren. Nur so kann man prüfen, ob sie Integrationsarbeit leisten oder nicht. Bislang haben solche Vereine doch freie Hand.

Spielt in diesem Konflikt die Berliner Regelung zum Religionsunterricht auch eine entscheidende Rolle?

Es wird eine große Rolle spielen. Ich meine konkret die Folgen des islamischen Religionsunterrichts durch die Islamische Föderation. Schon jetzt beklagen sich die deutschen Lehrkräfte, dass die Föderation im Unterricht missioniert und Zwang ausübt, etwa während des Ramadan.

Was müsste das Land Berlin Ihrer Meinung nach tun?

Ich plädiere dafür, den Religionsunterricht an Berliner Schulen gemäß Artikel 7.3 Grundgesetz, also wie im restlichen Bundesgebiet, zu erteilen. Damit wäre der bekennende Religionsunterricht ein Pflichtfach. Berlin ist daran aber nicht interessiert, weil es neue Kosten für Lehrpersonal bedeutet. Bei der bevorstehenden Änderung des Schulgesetzes könnte man Paragraph 23 streichen, der der Föderation den Zugang ermöglicht.

Muss nicht Integrationsarbeit viel stärker schon in der Schule geleistet werden?

Natürlich, Migrantenkinder erhalten in der Familie eine andere Sozialisation als in der Schule. Eine, die auf die Integration nicht vorbereitet. Ich meine zum Beispiel die Rollenverteilung zwischen Mann und Frau. Einige Vereine fordern deshalb die Schulpflicht für die Vorschule. Oder wenigstens ein Empfehlungsschreiben der Behörden an die Eltern, ihr Kind in die Kita zu schicken, um die Deutschkenntnisse zu fördern. Ich plädiere dafür, den Sprachförderunterricht je nach Bedarf forciert zu erteilen. In diesem Bereich muss massiv interveniert werden.

Plädieren Sie für den Zwang zu Sprachkursen?

Im letzten Jahr zeigten die Ergebnisse des Sprachstandstests „Bärenstark“, dass die Sprachdefizite bei Kindern, die die Kita nicht besucht haben, bei über 60 Prozent liegen. Bei den Kita-Kindern hingegen nur bei 18 Prozent. Das spielt also eine wichtige Rolle. Ein anderer Faktor, der in dieser Hinsicht Wirkung zeigen könnte, ist die Ganztagsschule.

Was könnte die bewirken?

Die würde die Oberhand gewinnen im Konflikt zwischen Schule und Familie.