Die Rock’n’Roll-Rentner

Die Generation 50plus ist anders als das Klischee es will. Das zeigt eine Studie der Universität Osnabrück. Ein gutes Beispiel dafür ist Dieter Otten selbst. Er ist der Verfasser der Studie

VON ANNE REINERT

Bunt, lebhaft, irgendwie kindlich wirkt die Londoner Straßenszenerie mit dem roten Omnibus und den Autos in knalligen Farben. Dieter Otten hat das Bild vor kurzem einer Kunststudentin abgekauft. Jetzt lehnt es an der Wand seines Büros in der Universität Osnabrück.

„Jung“ – das ist sicher ein weiteres Prädikat, das zu dem Bild passt. Und „jung geblieben“ eines, das viele dem Soziologieprofessor verpassen würden. Niemand würde bei seinem bloßen Anblick auf die Idee kommen, dass er gerade emeritiert wurde. Dieter Otten sieht eher nach einem Mittfünfziger als nach einem Mittsechziger aus. Einem jung gebliebenen Mittfünfziger.

An den zwei rosafarbenen iMacs in Ottens Büro sitzen fast nur noch die Doktoranten Nina Melsheimer und Wassja Weiß, mit denen er „Die 50+Studie“ erstellt hat. Deren Ergebnisse wurden letzte Woche vorgestellt. Da ist es ein merkwürdiger Zufall, dass Dieter Otten gerade jetzt das Pensionsalter erreicht hat. „Ich bin mein eigenes Betrachtungsexemplar“, sagt er selbst und gibt zu, dass die Selbstbeobachtung Teil seiner Motivation zu der Studie war.

Und tatsächlich, die Ergebnisse zeigen, dass die meisten Vertreter Generation 50plus genauso wenig mit dem Rentner in gemütlichen Puschen oder der alten Dame im Blümchenkleid zu tun haben wie der Professor. Dieter Otten selbst verweist gern darauf, dass zu der untersuchten Gruppe die 68er-Generation zählt. Oder die Rock’n’Roll-Generation. Genau genommen stammen die Daten von Vertretern der Geburtsjahrgänge 1939 bis 1964. Der Begriff „50plus“ ist allerdings verkaufsträchtiger. Besonders in Hinblick auf das Sachbuch, das Dieter Otten selbst geschrieben und bei Rororo veröffentlicht hat. Den Forschungsbericht veröffentlichen Nina Melsheimer und Wassja Weiß – im Internet.

Schon in den 90ern hat sich Dieter Otten mit dem Thema alternde Gesellschaft befasst. Damals war von den „jungen Alten“ und den „neuen Alten“ die Rede. Diese Schlagwörter waren auch für Otten und seine Mitarbeiter wichtig, als sie mit ihrer Arbeit begannen. Doch allmählich merkten sie, „dass die Alten gar nicht alt sind“, so Otten. Der Alters-Limes verschiebe sich immer weiter nach oben. Heute sei die 50plus-Generation physisch, mental und sozial fitter denn je.

Der große Aufreger bei der Veröffentlichung der Studie war, dass die meisten über 60-Jährigen noch Sex haben. „Variantenreichen“ sogar. Dieter Otten schmunzelt, wenn er darauf angesprochen wird. Es sei die Idee des Pressesprechers der Universität gewesen, diesen Punkt voran zu stellen. „Aber Sexualität war ja tatsächlich ein Schwerpunkt der Studie“, sagt er.

Otten und seine Doktoranden haben aber noch mehr herausgefunden. So wollen die meisten über 50-Jährigen mit 65 gar nicht aufhören zu arbeiten. 60 Prozent würden gern in ihrem angestammten Beruf weiterarbeiten, 30 Prozent gern etwas Neues probieren. Zu der letzten Gruppe gehört Dieter Otten selbst. Er wird demnächst für ein Development-Unternehmen Netzwerke in Südeuropa aufbauen. Das liegt ihm als Soziologen schließlich. „Ich könnte mir aber auch vorstellen, noch einen Hochschulabschluss zu machen“, sagt er. Am liebsten als Bauingenieur oder als Architekt.

Beide Berufe werden seiner Ansicht nach gebraucht. „Das Zukunftsthema ist das Zusammenleben“, prognostiziert er mit Blick auf die alternde Gesellschaft. Ursula von der Leyens Idee der Mehr-Generationen-Häuser etwa hält er für einen guten Ansatz. Doch sie geht ihm nicht weit genug. „Das ist noch zu sehr in den Familienstrukturen gedacht“, erklärt er. Die wirklichen Lösungen, so Otten, müssten gesamtgesellschaftlich orientiert sein. Er denkt da etwa an kommunitarische Gemeinschaften oder Vorstellungen, wie es sie in der Kibbuzbewegung gab.

Da spricht mit Sicherheit der 68er in dem Soziologen. Denn der ist er unbestritten. Im Jahr 1968 selbst hat er sein Examen gemacht. Danach arbeitete er für das sozialistische Büro. „Die SPD war mir damals zur rechts“, erinnert er sich. Anfang der 80er Jahre änderte sich das. Da war Otten SPD-Kandidat für das Europaparlament. Anfang der 90er Jahre trat er aber wieder aus der Partei aus. Heute bezeichnet er sich als Wechselwähler. Die CDU würde er aber nicht wählen, betont Dieter Otten. „Da müsste einiges passieren“, sagt er mit einem breiten Grinsen. Wenn es nach den Ergebnissen der Studie geht, ständen für die CDU überhaupt schwere Zeiten an. Denn immer weniger Menschen über 50 wählen sie.

Die Alt-68er von heute und ihre Altersgenossen sind eben nicht so, wie es das traditionelle Rollenbild für Senioren vorschreibt. Nicht nur, weil sie Sex haben und nicht CDU wählen, sondern auch, weil sie noch viel vom Leben erwarten. Partys etwa. Dieter Otten selbst geht regelmäßig zu einer Motown-Party in Osnabrück. Dort tanzen er und viele andere Partygäste über 50 bis in den frühen Morgen im Rhythmus eben jener Musik.