„Rasender Stillstand“

Mit Rossinis „Barbier von Sevilla“ hat eine der meistgespielten Opern Premiere. Regisseurin Sittig sucht in ihr nach dem „Funktionieren der Menschen im System“

Giacchino Rossinis turbulenter „Il Barbiere di Seviglia“ hat schon immer die Außenseiter unter den Opernregisseuren angezogen: Herbert Wernicke, Peter Mussbach, Hans Neugebauer, Ruth Berghaus; sogar Dario Fo hat das Werk in Amsterdam aus dem Geist der Commedia dell‘Arte inszeniert.

Wenn das 1816 mitten in der europäischen Restauration entstandene Werk eines vierundzwanzigjährigen Komponisten jetzt durch die ebenfalls junge Regisseurin Carolyn Sittig am Bremer Theater herausgebracht wird, liegt die Frage nahe, wie schwer eigentlich eine solche Interpretationstradition auf einem der meistgespielten Werke der Oper lastet.

Für die künstlerische Biographie von Carolyn Sittig ist es typisch, nicht nur klassische Stoffe der Opernliteratur zu bearbeiten. Ebenso hat sie zeitgenössische Werke zur Uraufführung gebracht, zuletzt „Das Salomé-Prinzip“ von Enjott Schneider in Gelsenkirchen.

taz: Rossinis Werk ist eines der berühmtesten und meist gespielten der gesamten Opernliteratur. Welche Rolle spielt das eigentlich bei der Bereitschaft, einen Inszenierungsauftrag zu übernehmen? Ist ein unbekanntes Werk nicht vielleicht stressfreier?

Carolyn Sittig: Nein. Es geht mir nur um die Auseinandersetzung mit dem Werk.Ich habe nicht den Druck, alles anders machen zu müssen.

Welche Rolle spielt für Sie der politische Background der Komposition? Landauf, landab war Restauration angesagt – und Heinrich Heine hat von den „staatsgefährdenden Trillern und revolutionären Koloraturen“ Rossinis gesprochen.

Es ist wichtig, die vorrevolutionäre Dichtung Pierre Augustin Beaumarchais zu betrachten, die dem Textbuch zugrundeliegt: Sie hält der Gesellschaft einen Spiegel vor und spricht vom Zerfall der herrschenden Klasse. Und Rossini, der mit Musik und Theater aufgewachsen ist, repräsentiert in seiner Musik ebenso bösartig wie liebevoll das Funktionieren seiner Menschen im System. Man kann das auch einen rasenden Stillstand nennen.

Eigentlich ist ja der Inhalt keineswegs witzig: bedenkt man den alternden Bartolo, der sein Mündel Rosina festhalten und heiraten will, bedenkt man Rosina, die alles auf Flucht setzt, Almaviva, der massive Probleme mit seinem Grafenstand hat ...

Stimmt. Alle befinden sich im Aufbruch zu einem Ziel, für das jeder ein bestimmtes Anliegen hat, ich stütze mich da auf die sehr komplexe Vorgeschichte. Bartolo flieht nach Sevilla, um seine Verbindung zu Rosina zu retten, Basilio ist auf der Jagd nach Geld, Rosina will endlich die Liebe finden, der Graf hat eine Identitätskrise, muss erwachsen werden – alle sind voneinander abhängig, stürzen ihren eigenen Interessen nach wie Rennpferde und geraten zunehmend in Gefährdung.

Das Finale des ersten Aktes zeigt dieses Chaos in absurder Form. Welchen Einfluss hat die Musik auf die Inszenierung, wie arbeiten Sie daran?

Ich denke, in der Oper geht es immer zunächst um den Komponisten, der sich als erster den Text anverwandelt hat. Die Auseinandersetzung mit der Partitur ist grundsätzlich die erste Fundgrube. Das ist das Gerüst, der Raum, in dem wir die Sänger in ihrer seelischen Wahrhaftigkeit bewegen.

Welche Rolle spielt da das Bühnenbild?

Eine immense. Der Raum muss sowohl geistig als auch in Wirklichkeit hergestellt werden. Er ist neben der Musik und dem Text die dritte Ebene, die in diesem Falle auch das Funktionieren von Theater vorführt.

1829 hat Rossini aufgehört zu komponieren. Warum?

Damit habe ich mich lange beschäftigt. Wir merken in den Proben, dass man nach acht Stunden dieser Musik vollkommen aufgeputscht und irgendwie „irre“ nach Hause geht. Ich glaube, er war vollkommen ausgebrannt, spürte, dass er nichts „Neues“ zu sagen hatte. Dazu kam sein extremer Lebenswandel, der ihm massive gesundheitliche Probleme und Depressionen bescherte.

Fragen: Ute Schalz-Laurenze

Premiere am Samstag, um 19.30, im Theater am Richtweg. Musikalische Leitung: Graham Jackson