Im Fokus: Die Vorführmenschlein

Kammerphilharmonie und Moks widmen sich den so genannten Wunderkindern, beziehungsweise der Fallhöhe zwischen Götterkind und normalsterblichem Ich. Ein gutes Projekt, das allerdings an konzeptionellen Mängeln krankt

Die Klavierstunde eines Nicht-Hochbegabten macht Lust auf mehr Theater

Wunderkinder sind dauerhipp. Über das Thema wurde schon geredet, als man schwafeln noch als „räsonnieren“ bezeichnete. Und spätestens im 20. Jahrhundert avancierten die intellektuell oder feinmotorisch vor der Zeit gereiften Vorführmenschlein zur Personifikation des Mythos ewiger Jugend: Wer im Alter von drei Lebensjahren bereits über die Weltweisheit des Greisen verfügt, kann allenfalls wachsen. Die Jugend wird er jedoch nicht verlieren. Er bleibt selbst im hohen Alter Wunderkind.

Das Sujet war also, trotz reichlicher Abnutzung, gut gewählt für die erste Koproduktion von „Deutscher Kammerphilharmonie Bremen“ und Moks-Theater: Heute Abend spielen die längst in Ehren ergrauten türkischen Piano-Wunderzwillinge Güher und Süher Pekinel in der Glocke. Auf dem Programm steht neben dem Konzert für zwei Klaviere in E-Dur von – bereits im Alter von sieben Jahren ob seiner Musikalität in tout Berlin gefeierten – Felix Mendelssohn-Bartholdy natürlich Donnerblitzbub Wolfgang Amadeus. Auch er mit einem relativ späten Werk: Der Haffner- Symphonie. Und zum Abschluss erklingt die im Alter von 31 Jahren gefertigte 2. Sinfonie Beethovens – Erstauftritt mit zehn Jahren. Jetzt gab es dazu eine szenisch lockere Einführung im Moks-Theater. Ihr Titel: „Genial! – Wunderkinder“.

Die Idee ist brillant – einen quasi autonomen, theatralischen Themenabend zu komponieren, der zugleich als Einstimmung auf eine klassische musikalische Veranstaltung daher kommt – das befreit von der Verpflichtung zur wohlmeinend vertrockneten Didaxe der üblichen Einführungen. Doch wie diesen entstandenen Gestaltungsspielraum auffüllen?

Schauspieler Martin Leßmann hat sich diese Frage offensichtlich gestellt. Eine Antwort hat er indes nicht gefunden. „Genial – das sagen wir, wenn uns gar nichts mehr einfällt“, führt er ein. „Immer dann, wenn uns ein Wunder die Sprache verschlägt.“

Anderthalb Stunden lang „genial“ sagen, das geht nun nicht. Aber das Wort lässt sich trefflich paraphrasieren. So plaudert sich Leßmann charmant durch einen Ozean der Gemeinplätze und unreflektierter Populärmythen, bis er wieder einmal eine der raren substanziellen Inseln erreicht hat.

Bei den meisten handelt es sich allerdings um Sandbänke: Die Präsentation von Wunderkinder-Viten der Goethe-Zeit etwa, vermittels farbiger Pappröhren auf einem, die Daten der Dichterbiografie markierenden roten Läufer, – das ist ein optisch hübscher Einfall. Aber er verpufft. Einerseits, weil so nur die Bemühtheit innovativen Schulunterrichts ein wenig klamaukhaft aufpeppt. Andererseits, weil er tatsächlich zu nichts anderem dient, als der Präsentation von Lebensdaten. Kaum besser funktional eingebunden: Die Musik. Der Auftritt von Kontrabassistin Tatjana Erler und Geiger Jörg Assmann hat Witz, bleibt aber schieres Zwischenspiel.

Die stärksten Momente hat die Veranstaltung dort, wo sich Leßmann wirklich von der tradierten Form der Einführung freimacht, auf die Vermittlung lexikalischen Wissens verzichtet und sich ins Szenische wagt: Ein echter Ohrenöffner ist das Solo-Dramolett, das die traumatische Klavierstunde eines gerade nicht hochbegabten Zehnjährigen nachstellt. Dessen Gewissensnot vor Diabellis vierhändigen Kompositionen – „Jugendfreuden“ heißen die – und dem am Fis prangenden altjüngferlichen Rotz seiner Lehrerin macht Lust auf mehr Theater.

Und auf mehr Musik: Gerade weil es die Fallhöhe zwischen Götterkind und normalsterblichem Ich erfahren lässt. Die zu kennen ist Bedingung bestenfalls für Bewunderung, schlimmstenfalls für Neid. Beides setzt aber das Gleiche voraus: Neugier, das akustische Wunder zu erleben.

Benno Schirrmeister

Konzert mit der Deutschen Kammerphilharmonie Bremen heute, 20 Uhr, Glocke. Dirigent: John Carewe, Solistinnen: Güher und Süher Pekinel