Ein begehbares Stummfilmfest

Das Schtetl und das Konfektionsmilieu: Die Ausstellung „Pioniere in Celluloid – Juden in der frühen Filmwelt“ im Centrum Judaicum Berlin zeigt Fotos, Texte und Ausschnitte aus Filmen jüdischer Regisseure und Autoren von 1910 bis 1925, die jüdische Themen weniger dokumentieren als inszenierten

VON ANNE KRAUME

Als der evangelische Pastor und Abgeordnete im Deutschen Reichstag Reinhard Mumm 1920 in einer Broschüre das „durch die Lichtbühnen verschuldete sittliche und künstlerische Volksverderben“ anprangert, lässt er dabei auch die Tatsache nicht unerwähnt, dass sich die neue Filmindustrie im Wesentlichen „in jüdischen Händen“ befinde. Der Einfluss seiner Tiraden bleibt allerdings begrenzt: Der Siegeszug des neuen Mediums ist schon lange nicht mehr aufzuhalten.

Schon acht Jahre zuvor hat die Filmbranche die deutschnationalen, nicht selten antisemitischen Hetztiraden gegen das Kino zum Anlass für eine filmische Persiflage von Mumms rechtskonservativen Gesinnungsgenossen genommen: „Wie sich der Kientopp rächt“ heißt der Film, in dem der Kinogegner „Professor Moralsky“ nicht nur der Lächerlichkeit preisgegeben, sondern vor allem der Doppelmoral überführt wird – und das mit allen filmischen Mitteln, die dem jungen Stummfilm zur Verfügung standen.

Die fünfzehnminütige Persiflage aus dem Jahr 1912 ist ebenso wie die Dokumentation der völkisch angehauchten Anti-Kino-Pamphlete Teil der Ausstellung „Pioniere in Celluloid – Juden in der frühen Filmwelt“, die zur Zeit im Centrum Judaicum Berlin zu sehen ist. Die frühe Filmwelt: Das sind in der Berliner Ausstellung die Jahre von 1910 bis 1925, die Zeit also, in der sich das neue Medium rasant von einer oft geschmähten proletarischen Attraktion zu einer viel beachteten Kunstform entwickelte. Dass viele der Pioniere in dieser neuen Welt des Films jüdischer Abstammung waren, wird in der Ausstellung pragmatisch erklärt: Ob einer Jude war oder nicht, das war in diesen frühen Jahren des neuen Mediums kaum von Belang; es zählte nicht die Herkunft eines Regisseurs oder Lichtspielhausbetreibers, sondern ob er Talent hatte und Unternehmungsgeist.

Wenn das Kino deshalb jüdischen Kaufleuten ebenso wie Künstlern, Schriftstellern und Schauspielern eine Chance bot, die sie anderswo nicht bekommen hätten, dann wussten sie sie auch zu nutzen: Sie drehten Liebesschnulzen und monumentale Historienfilme, Gruseleien und Großstadtdramen, Persiflagen und Aufklärungsfilme, Komödien und Kaiserparaden. Dass diese Traumfabrik aber auch einen ganz eigenen Traum produzierte, nämlich den von der Überwindung von Nationalgrenzen, Sprachbarrieren und Religionsschranken, das zeigt die Ausstellung im Centrum Judaicum nicht zuletzt durch die bloße Fülle ihrer Exponate.

Ein „begehbares Stummfilmfestival“ habe sie schaffen wollen, sagt die Kuratorin Irene Stratenwerth, und dazu präsentiert sie nicht allein Ausschnitte aus mehr als 20 Filmen, sondern auch zahlreiche Fotos und Texte, die die Zusammenhänge, die die Ausstellung herstellt, geradezu zwingend erscheinen lassen. Es geht vor allem um die Pioniere hinter der Kamera, um Figuren wie Ernst Lubitsch, Paul Davidson oder Joseph Delmont, die Berlin in den Zehner- und Zwanzigerjahren zu einem glanzvollen Zentrum der neuen internationalen Filmindustrie machen.

Das Kino ist niemals, auch in seinen Anfängen nicht, ein harmloses Unterhaltungsmedium: Es wird zum Wegbegleiter in die Moderne, wenn es etwa die Bilder aus der Großstadt hinaus aufs Land bringt; und es wird zur Brücke zwischen den Welten, etwa wenn es exotische Sujets oder Aktualitäten aus der Ferne vorstellt. 1914 wird es zum wichtigen Mittel der Kriegspropaganda, und nach dem Krieg sorgen die ersten Sexualaufklärungsfilme für Kontroversen, in die sich, wie im Fall des Pastors Mumm, nicht selten auch antisemitische Untertöne mischen. Das Kino, wie es die Berliner Ausstellung präsentiert, spiegelt präzise die politischen, sozialen und kulturellen Spannungen seiner Entstehungszeit.

Dass die Filme von jüdischen Filmemachern nicht selten auch jüdische Sujets im weitesten Sinne aufgreifen, versteht sich von selbst: In den Jahren rund um den Ersten Weltkrieg begeistert zum Beispiel Ernst Lubitsch mit einer Reihe von Filmen, in denen er einen jüdischen Lehrjungen spielt, gern einen aus dem Konfektionsmilieu, der sich gewitzt in die feine Gesellschaft emporschwindelt. Aber auch ernsthaftere Auseinandersetzungen mit jüdischen Themen finden ihr Publikum: Berlin wird in diesen Jahren immer mehr zum Zufluchtsort für ostjüdische Emigranten. Ein Film wie „Das alte Gesetz“ von E. A. Dupont aus dem Jahr 1923, für den in Weißensee ein ganzes galizisches Schtetl aus Kulissen entsteht, antwortet auf das wachsende Interesse an ostjüdischen Lebenswelten.

Eine der großen Stärken der Ausstellung von Irene Stratenwerth ist, dass sie ihre eigene Fragestellung immer wieder problematisiert und sie auf diese Weise in mehrfachen Brechungen vorstellt. Die jüdischen Sujets, ob nun aus dem Konfektionsmilieu oder aus dem Schtetl, werden hier nie als Dokumente einer tatsächlichen Lebensrealität gelesen, sondern erscheinen immer als Bilder und Geschichten, die zwar die Wahrnehmung dessen, was man für jüdisch hielt und vielleicht noch hält, entscheidend geprägt haben, die aber dennoch immer Inszenierungen bleiben. Die Ausstellung sieht in ihrem Material bis zu einem gewissen Punkt immer historische Quellen, die unter Umständen mit Vorsicht zu genießen sind – was sie natürlich nicht daran hindert, diese Quellen mit Begeisterung zu präsentieren.

Bis 15. 5., So.–Do. 10–18, Fr. 10–14 Uhr, Oranienburger Str. 28–30. Katalog (Henschel Verlag) 24,90 €