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Die Heldenherde

Die Leipziger trotten montags gern durchs Dorf – aus welchem Grund auch immer

Realitätsresistent, wie die Leipziger sind, verstehen sie nicht die einfachste Lektion

Knapp ein Jahr ist es her, da zeigte sich meine Halbheimat Leipzig ungewohnt farbenfroh. Allerorten hängten die griesgrämigen Bewohner dieser Stadt plötzlich buntstreifige Fahnen aus dem Fenster, womit sie allerdings weder ihrer Lebensfreude noch einer ad hoc eingetretenen Homophilie Ausdruck verleihen wollten. Vielmehr stellten sie – die eigene Mainstream-Meinung mit Zivilcourage verwechselnd – ihre bedingungslose Friedensliebe zur Schau. Und Zivilcourage täuscht der Leipziger gern vor.

Wer auch immer der Stadt diesen Titel verpasst hat: An ihrer Bürde als „Heldenstadt“ haben die Leipziger schwer zu schleppen. Seit sie 1989 mit den Montagsdemos die Wiedervereinigung herbeigelatscht haben, meinen sie, die eigene Heldenhaftigkeit sich und allen anderen immer wieder unter Beweis stellen zu müssen. Wofür ihnen jedes Thema recht ist, zu dem sie moralinsauer aufstoßen können. Sogar die städtische Feuerwehr demonstrierte ihre Friedensliebe, indem sie aus der Wache in meinem Bezirk einen jener Friedensfetzen aus dem Fenster hängte. Fast kam man sich wie ein Kriegsverbrecher vor, wenn man bei der bunten Schwarz-Weiß-Malerei nicht mittun wollte.

Am ärgsten tobte der Leipziger Häuserkampf allerdings in meiner Straße, wo sich ein paar Häuser weiter unvermutet Widerstand regte: In Hausnummer 4 gesellte sich zu der aus dem dritten Stock hängenden Friedensfahne im zweiten Stock das amerikanische Sternenbanner, woraufhin der dritte Stock mit einer weiteren Friedensfahne konterte. Jedes Mal, wenn ich das Haus passierte, fragte ich mich nun, welcher Hausbewohner wohl weniger unsympathisch sei – und entschied mich schließlich für den Mieter, der den Fahnenkampf eines Tages mit einer Brasilienflagge bereicherte.

Nachdem jedoch weder Leipziger Lichterketten noch Montagsmärsche den Sturz Saddam Husseins zu verhindern vermochten, suchten sich die Leipziger ein neues Objekt ihres Einsatzes: Olympia 2012. Sie holten ihre Friedensfahnen wieder ein und klebten sich stattdessen Aufkleber mit der infantil-imperativischen Aufforderung „Spiele mit uns“ auf die Autos. Was man der „Jugend der Welt“ allerdings selbst als ärgster Olympiafeind nicht wünscht, ist doch die Einladung zu Olympischen Spielen in Leipzig so gastfreundlich wie das Veranstalten eines Festballs in der eigenen unaufgeräumten Einzimmerwohnung – in der Hoffnung, das Chaos würde sich irgendwie von alleine geben.

Nun hätte es im Grunde genommen genügt, mal kurz über die Neuinterpretation des Begriffs „Olympisches Dorf“ zu schmunzeln, um sich danach wieder den ernsthaften Bewerbern zu widmen. Aber die deutschen Sportfunktionäre waren bei der Vergabezeremonie so aus dem Häuschen über die zum Videoclip verkitschte jüngste deutsche Geschichte und einen Cello spielenden Ossi, dass sie Leipzig zur deutschen Bewerberstadt kürten. Und damit der typisch Leipziger Mischung aus Minderwertigkeitskomplex und Größenwahn weiteren Vorschub leisteten.

So begründete das Zentralorgan der Olympiabefürworter, die Leipziger Volkszeitung, das Ansinnen gewohnt profilneurotisch: „Schließlich sind die Olympischen Spiele … die größte Friedensbewegung der Welt.“ Was so hanebüchen ist wie die Forderung des Friedensnobelpreises für das IOC. Wer seine lokalpatriotische Geldgeilheit so ahistorisch und verquast verbrämt, dem wünscht man Olympia schon aus Boshaftigkeit in die Stadt. Doch realitätsresistent, wie die Leipziger sind, würden sie wohl auch diese Lektion nicht verstehen.

Als sich die ersten Olympia-immanenten Begleiterscheinungen wie Korruption, Filz und Skandale einstellten, gingen die Leipziger zwar auf die Straße – mit einer Montagsdemo selbstverständlich, denn in der Wahl seiner Mittel ist der Leipziger einfallslos –, allerdings nicht um die Verantwortlichen mit Schimpf und Schande aus der Stadt zu jagen, wie es sich gehörte, sondern um ihnen den Rücken zu stärken. „Wir wollen die Spiele“ und „Ja zu Olympia. Nein zu Miesmachern und Gegnern“ stand auf den Transparenten, hinter denen eine 4.000-köpfige Heldenherde durch die Stadt trottete. Und als wäre eine „Montagsdemo für Olympia“ nicht schon schwachsinnig genug, hatte man sich zuvor auch noch in der Nikolaikirche versammelt, um in der gleichen Angelegenheit ein so genanntes Friedensgebet zu sprechen.

Stoisch, wie die Leipziger sind, ist leider auch nach der zu erwartenden Nichtnominierung durch das IOC im Mai dieses Jahres, nicht mit dem Ende solch larmoyanter Aktionen zu rechnen. Denn was unmöglich scheint, fordert die Leipziger in ihrem Wunderwahn erst recht heraus. So hängen – unbeirrt von der Nachrichtenlage – auch die Friedensfahnen in meiner Straße noch. Zwar ist unklar, wofür ihre Besitzer damit demonstrieren. Aber eines ist ziemlich sicher: Sie wären gern noch ein bisschen länger für den Frieden gewesen. PHILIP MEINHOLD

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