Keiner hängt am Mast

Bei der Dortmunder „Krisengesellschaft auf Aktien“ wird der 4:2-Sieg gegen den VfL Wolfsburg als erster Schritt aus besagter Krise gewertet. Vor allem bei Trainer Sammer ist die Erleichterung groß

AUS WOLFSBURG PETER UNFRIED

Wie wichtig der Ausgang eines Fußballspiels denn nun genau war, darüber wird ja gerne philosophiert. In der Regel sagen die Befragten, völlig zu Recht, dass ein Sieg drei Punkte bringe – und leider nicht mehr. Und der nächste Sieg wieder drei, weswegen man sich schnell nach vorn orientieren müsse und so weiter … Im Großen und Ganzen trifft diese Erkenntnis auch und gerade auf das 4:2 von Borussia Dortmund beim VfL Wolfsburg zu.

Trotzdem stand Matthias Sammer nach Spielende im Presseraum, hatte die Arme vor dem Körper verschränkt und kam von einer ruhigen Spielanalyse etwas überraschend zur Beschreibung der persönlichen Befindlichkeit. „Ich sage Ihnen ganz ehrlich“, sagte der Borussen-Trainer, „die Erleichterung ist schon groß.“ Dann hob Sammer die Stimme, und schon war er mitten in einer grundsätzlichen Gesellschaftsanalyse und Wertediskussion und redete darüber, was heutzutage für „Dinge erwartet“ würden. Zum Beispiel Folgendes: „Einer soll am Mast aufgehangen werden, damit alle wieder zufrieden sind – oder was?“ Mit dem „Einen“ meinte er offensichtlich sich selbst, mit dem Vergleich bekundete er sein grundsätzliche Missfallen, den respektlosen Umgang von Medien und Öffentlichkeit mit in der Kritik stehenden Fußballtrainern betreffend. Dann ging er von einem potenziellen Lynchmob-Grüppchen zum nächsten und sagte sein Sprüchlein erneut auf.

Selbst wer ihm grundsätzlich moralphilosophisch Recht gibt, was diese Welt betrifft, muss immerhin annehmen, dass Sammer (36) in ihr einen vergleichsweise verlässlichen Arbeitszusammenhang hat. Gerne betonen die BVB-Manager, für ihren Trainer auch „die Mechanismen des Geschäfts“ außer Kraft setzen zu wollen. Mehr kann man schwerlich verlangen. Zum anderen schützt ihn das kolportierte Gehaltsvolumen bis Vertragsende 2006 (8 Millionen Euro). Grundsätzlich ändert der Sieg in Wolfsburg gar nichts an der schwierigen Situation der ökonomisch und sportlich schwer angeschlagenen „Krisengesellschaft auf Aktien“ (FAZ) . Aber er hat in der momentanen Situation einen starken emotionalen und werbetechnischen Wert. Zum einen hat er zur vorläufigen Befriedung der meuternden Anhängerschaft beigetragen. Die hatte das BVB-Team in der VW-Arena mit einem „Versager“-Plakat abgemahnt und war zudem dem Geschehen zu Spielbeginn ferngeblieben, allerdings nur ganze drei Minuten. Zum anderen kann man ihn derzeit als Beleg dafür verkaufen, dass das Team endlich mit der Situation umgehen könne. Dass es eben nicht mehr um Titel und Champions League geht, sondern in Wolfsburg bloß oder gerade darum, einen direkten Mitbewerber um den Uefa-Cup-Platz abzuschütteln. Der Auftritt sei „ein gutes Zeichen“, sagt Sportdirektor Michael Zorc, „dass die Mannschaft weiter lebt.“

Tatsächlich machte der BVB kein schlechtes Spiel. Ob es ein taktischer Geniestreich von Sammer war, das System von 4-4-2 auf 4-3-3 umzustellen? Oder doch eher dem Fehlen des gesperrten Spielmachers Tomas Rosicky geschuldet? Den Unterschied machten die lange verletzten Mittelfeldspieler Flávio Conceição (zentral vor der Abwehr) und Torsten Frings (links). Sie brachten das Team in die Balance und organisierten eine konzentriert arbeitende Verteidigung und einen zielorientierten Spielaufbau. „Viel besser“ als zuletzt beim 0:1 gegen Schalke seien die Rekonvaleszenten gewesen, sagte Sammer. Und: „Die Qualität dieser beiden brauchen wir.“ Dass man zudem die Wolfsburger Führung durch Petrows Strafstoß (36.) umbog – und zwar noch vor der Halbzeit (Jensen, Koller), ist ein weiterer Aspekt, mit dem man sich aufbauen kann.

Allerdings war der VfL Wolfsburg ein echter Aufbaugegner. Auch dort geht es offiziell um das „direkte Erreichen des Uefa-Cup-Platzes“, wie Aufsichtsratsvorsitzender Lothar Sander vorgegeben hat. Doch dafür fehlt eine Innenverteidigung. Die VfL-Abwehr schwankte im prasselnden Regen hin und her wie das Stadiondach der Arena. Pablo Quattrocchi bestand gegen den guten Koller trotz konkurrenzfähiger Körpergröße nicht. Er konnte Kollers 1:2 (45.) nicht verhindern – und war auch an Frings’ 1:3 (54.) und Einwechselspieler Rickens 1:4 (78.) beteiligt. Und Partner Maik Franz gilt als Talent, verbarg das aber ganz und gar. Zudem war die ansonsten durchaus ernst zu nehmende Wolfsburger Offensive ohne den verletzten Chef Andres D’Alessandro nicht adäquat zu organisieren.

Wolfsburg: Jentzsch - Franz, Quattrocchi (81. Fischer), Schnoor, Weiser - Karhan (60. Hrgovic), Thiam (39. Sarpei) - Menseguez, Petrow - Klimowicz, BaianoDortmund: Warmuz - Reuter, Demel, Wörns, Jensen - Frings (89. Brzenska), Conceicao, Kehl - Odonkor (85. Gambino), Koller, Ewerthon (70. Ricken)Zuschauer: 25.286; Tore: 1:0 Petrow (35./Foulelfmeter), 1:1 Jensen (42.), 1:2 Koller (45.), 1:3 Frings (54.), 1:4 Ricken (77.), 2:4 Baiano (87.)