Die Vielfalt verliert Federn

VON BERNHARD PÖTTER

Bei der Grünen Woche in Berlin liegen nur 50 Meter zwischen ihnen: In Halle 25 präsentieren die Geflügelzüchterverbände stolz ihre reinrassigen, bunten und liebevoll gepflegten Hühner. Einen Eiwurf entfernt, in Halle 3.2 zeigen die Profis von der Geflügelindustrie ihre hochgezüchteten Legehennen.

In Wirklichkeit liegen Welten zwischen den Hühnerzüchtern: Auf der einen Seite die Hobbyzüchter, denen es um reinrassigen Erhalt inzwischen seltener Arten wie Westfälischer Totleger oder Ostfriesische Möwe geht. Insgesamt knapp 100 verschiedene Sorten von Hühnern sind von den deutschen Geflügelzüchtern offiziell anerkannt. Auf der anderen Seite stehen die großen Zuchtbetriebe, die die ganze Welt mit Hühnereiern und -fleisch versorgen. Sie „produzieren“ jährlich Millionen von Tieren, die nur aus wenigen Rassen hochgezüchtet worden sind.

In keinem anderen Bereich der kommerziellen Tierzucht ist das globale Angebot an Tierlinien so eingeengt wie bei der Hühnerzucht. Das Geflügel lässt sich schnell und gut auf verschiedene Merkmale hin züchten. Das Ei ist leicht zu transportieren, lokal auszubrüten und anpassungsfähig. Und ganz wenige Arten sind industriell zu Hochleistungshühnern geformt worden, die den Rest ihrer Artgenossen an den Rand drängen.

Trotzdem ist der Rückgang der Artenvielfalt in der Landwirtschaft bislang kaum ein öffentliches Thema – im Gegensatz zum Verlust der Biodiversität bei der wilden Fauna und Flora. So wird auch bei der Artenschutzkonferenz, die heute in Kuala Lumpur beginnt, zwar das Thema „Biodiversität“ auf der Tagesordnung stehen. Doch debattiert wird vor allem die umstrittene Nutzung wilder biologischer Ressourcen des Südens durch den Norden. Vielfalt in der Landwirtschaft, die Agrobiodiversität, wird nur als Nebenthema behandelt.

Wie das globale Huhn entsteht

Dabei ist der Verlust an Artenvielfalt in diesem Bereich enorm. Und nirgendwo ist diese Tendenz besser sichtbar als bei der internationalen Hühnerzucht. Jeweils drei bis vier Unternehmen teilen sich den globalen Markt für Legehennen und Masthähnchen. Praktisch alle Hühner, die kommerziell weißschalige Eier legen, sind aus einer Art, dem Weißen Leghorn hervorgegangen. Die Unternehmen haben aus wenigen Arten ihre Hochleistungslinien gezüchtet. Aus denen kreuzen sie je nach Bedarf die aktuellen Sorten zusammen. „Aus 30 Linien bringen wir zwei Produkte von Käfighennen und zwei für Bodenhaltung auf den Markt“, sagt Rudolf Preisinger, Geschäftsführer und Chefgenetiker von „Lohmann Tierzucht“.

Vor den Konsequenzen dieser Entwicklung warnt ein Gutachten des Berliner Insituts für Ökologisches Wirtschaften (IÖW), das sich diesem System des „globalen Huhns“ widmet: „Das globale Huhn hat die Fähigkeit, alle verbleibenden Produktionssysteme und damit Hühnerrassen (genetische Ressourcen) in Frage zu stellen, indem die wirtschaftliche Nutzung nicht mehr rentabel möglich ist. Das globale Huhn zerstört die Agrobiodiversität und damit seine eigenen Grundlagen.“

Rudolf Preisinger bestreitet das. Seit mehr als 30 Jahren arbeite seine Firma mit einer geschlossenen Population von Legehennen, und es gebe im Genpool immer noch „genügend Variabilität“. Die brauche er als Züchter auch: „Ohne die Chance zur Variation untergrabe ich meine Basis und den möglichen Zuchterfolg von morgen. Ich weiß nicht, welche Tiere mit welchen Eigenschaften wir in fünf bis zehn Jahren brauchen, aber wir müssen uns die Chance erhalten, sie zu liefern.“

700 Milliarden Eier pro Jahr

Auf einer Tagung zur „Agrobiodiversität“ des IÖW in der vergangenen Woche warnte Preisinger davor, seine Hightech-Hühner als Hindernis für die Artenvielfalt zu sehen. Alle großen Züchter achteten sehr darauf, ihren Genpool zu erhalten und hielten sich kleine Herden mit Genreserven für den Notfall bereit. Hochgezüchtete Hühner bräuchten weniger Futter, lieferten mehr Ertrag und seien widerstandsfähiger als „normale“ Hühner etwa in Afrika. Die Versorgung mit tierischem Eiweiß, so Preisinger, sei mit Hochleistungstieren besser zu garantieren als mit anderen. Die 700 Milliarden Eier pro Jahr, die der Weltmarkt braucht, könnten theoretisch mit einer Ausgangsherde von nur 10.000 Hennen produziert werden.

Diese hochtechnisierte, kapitalintensive Produktion habe aber kaum noch etwas mit Artenvielfalt in der Landwirtschaft zu tun, meint Anita Idel von der „Projektkoordination Tiergesundheit und Agrobiodiversität“ – selbst wenn die Hühnerkonzerne der Genpool der hochgezüchteten Tiere gut pflegen. Für sie gilt: „Agrobiodiversität ist, was genutzt wird, und nicht, was es grundsätzlich gibt.“ Die hochgezüchteten Hühner hätten deutlich geringere Hemmschwellen beim gegenseitigen Federpicken und beim Kannibalismus. Auch andere Wissenschaftler fordern, dass Linien von Legehennen, die genetisch nicht an die Käfighaltung angepasst wurden, „in ihrer breiten genetischen Variation zu erkennen und für die Boden- beziehungsweise Auslaufhaltung zu bewahren“ seien. Schon heute fehlen nach Angaben des Projekts „Agrobiodiversität entwickeln“ Rassen und Arten für eine nachhaltige, lokal angepasste Landwirtschaft: So gebe es in Deutschland „keine freilandtaugliche Legehennenlinie, kein vermarktbares Ökoschwein und nur noch eine sandbodengeeignete Rebsorte.“

Ist die Hightech-Züchtung von Hühnern im globalen Maßstab eine Bedrohung für die Artenvielfalt? „Nein“, sagt Rudolf Preisinger. „Ja“, sagt Anita Idel. „Vielleicht“, sagt Steffen Weigend vom Institut für Tierzucht an der Bundesforschungsanstalt für Landwirtschaft. Denn einerseits zeigen die kommerziellen Bestände noch genug genetische Variabilität, um eine Inzucht zu vermeiden. Andererseits verdrängen sie gerade in den Ländern der Dritten Welt möglicherweise heimische Arten, deren Genpool die Züchter in der Zukunft vielleicht einmal dringend brauchen könnten. Hightech-Hühner aus Europa und den USA sind den heimischen bei der Legeleistung (300 Eier im Jahr bei optimalen Bedingungen gegenüber 50 bei den einheimischen) deutlich überlegen. Da ist die Versuchung groß, zur europäischen Legehenne zu greifen, um genügend Eier in die Pfanne zu bekommen.

Die Fallstudie zum „globalen Huhn“ des IÖW zeichnet die völlige Industrialisierung der Hühnerproduktion im 20. Jahrhundert nach. So habe erst die automatische Fütterung, der massive Einsatz von Antibiotika, wissenschaftlicher Zuchtmethoden und der Einstieg der großen Getreidekonzerne aus einem bäuerlichen Nebenerwerb eine globale Industrie gemacht. Die Fortschritte am Produkt sind dabei deutlich sichtbar: Im Vergleich zu 1920 habe sich 2000 das Gewicht schlachtreifer Masthähnchen verdoppelt, sie brauchten dafür nur 40 Prozent des Futters, Sterblichkeit und Zeit bis zur Schlachtreife wurden dramatisch verringert. „Mithin kann von einer Effizienzrevolution gesprochen werden“, so das Gutachten. „Selbst aus ökobilanzieller Sicht kann man davon ausgehen, dass das Huhn 2000 um Längen besser abschneidet als das Huhn 1920.“ Außerdem koste Hühnerfleisch in den USA inflationsbereinigt inzwischen nur noch 12 Prozent des Preises von 1945.

Nach dem Huhn kommt das Schwein

Doch das System hat seine Schattenseiten. Alle anderen Hühnersorten aus der traditionellen bäuerlichen Haltung, die nicht mit den Hightech-Züchtungen mithalten können, werden „zunehmend auskonkurriert“. Deshalb gelte „das Huhn als das Tier, dessen genetische Ressourcen am stärksten gefährdet“ seien. So werde etwa die EU-Osterweiterung in Polen, einem Land mit kleinbäuerlicher Landwirtschaft „zu einer Zerstörung der genetischen Ressourcen führen“, befürchtet das IÖW. Anderen Tieren drohe das gleiche Schicksal: „Das Huhn macht vor, wo es auch mit den Schweinen demnächst hingeht.“

Rettung für den Genpool des Huhns? Da bieten sich die üblichen Wege, meint das IÖW: Etablierung einer Genreserve, Entwicklung von Nischenmärkten oder mehr Unterstützung von Hobbyzüchtern. Allerdings sind die Experten skeptisch: Agrodiversität verlange letztlich Haltung in kleinen Einheiten, was gerade bei der Hühnerindustrie schwer durchzusetzen sei: „Die Zerstörung herkömmlicher Produktionsformen und damit der genetischen Ressourcen ist geradezu die Vorbedingung für den Erfolg des industrialisierten Systems.“

Eine aktuelle Gefahr sieht Steffen Weigend vom Institut für Tierzucht. Angesichts der Geflügelpest in Asien habe Vietnam angekündigt, alle Hühner im Land zu schlachten. „Ich glaube nicht, dass sie das schaffen. Aber wenn doch, würden sie damit den Genpool aller ihrer einheimischen Arten ausrotten. Das wäre ein unglaublicher Verlust.“