27 Stunden am Tag abgezockt

Skandal in der Gesundheitsbranche: Sanitätshäuser, Orthopädie-Schuster, Ärzte und Hebammen haben die Krankenkassen um mindestens zwei Millionen Euro betrogen. 19 Fälle nachgewiesen – aber nicht in jedem Fall gibt es eine Anzeige

taz ■ 14 Hausbesuche, fünf Beratungsgespräche, fünf Stunden „Hilfe bei Beschwerden“, einen Geburtsvorbereitungs-, einen Rückbildungskurs sowie 586 Kilometer im Auto – knapp 27 Arbeitsstunden an einem einzigen Tag: So ähnlich rechneten Bremer Hebammen bisweilen mit den Krankenkassen ab. Und Wilfried Mankus, bei der Bremer AOK für Ausgabenmangement zuständig, gibt zu: „Manchmal merken wir das nicht.“

Manchmal aber merken die Kassen es doch: Aufgeschreckt durch Meldungen über den Millionen-Betrug eines großen Bremer Sanitätshauses, richteten sie vor zweieinhalb Jahren eine gemeinsame Prüfgruppe ein. Deren erste Ergebnisse stellte Mankus gestern vor: 19 nachgewiesene Betrugsfälle mit einer Schadenshöhe von insgesamt rund zwei Millionen Euro, 15 Strafverfahren gegen Betrugsverdächtige und 28 Fälle, die noch nicht abschließend ermittelt sind – Schadenshöhe geheim.

Die Phantasie vieler Ärzte, Krankenpfleger und Orthopädie-Schuster kennt keine Grenzen: Sanitätshäuser etwa hätten jahrelang Konfektionsware verkauft, gegenüber den Kassen aber Maßanfertigungen abgerechnet, sagte Mankus. Rollstühle wurden mit Uralt-Teilen repariert, gebrauchte Hilfsmittel wie Hebe-Lifter ein zweites Mal für neu verkauft, Zahnersatz billig im Ausland bestellt und dann als teures deutsches Modell weitergegeben – alles zu Lasten der Versicherten. Die müssen für den Abrechnungsbetrug letztlich mit höheren Beiträgen büßen. „Man wundert sich schon, wie sowas passieren kann“, sagt Mankus.

Zwar liegt der bisher festgestellte Schaden im Vergleich zu den Gesamt-Ausgaben der Krankenkassen im Land Bremen – etwa 1,5 Milliarden Euro pro Jahr – im Promille-Bereich. Flächendeckende Prüfungen – etwa mit Hilfe von Computer-Programmen, die bei verdächtigen Abrechnungen Alarm schlagen – hat die mit dreieinhalb Vollzeitstellen besetzte Prüfgruppe allerdings noch nicht durchgeführt.

Ob eher die ÄrztInnen oder eher die Sanitätshäuser abzocken, konnte Mankus gestern nicht sagen. Man habe „in allen Branchen“ Betrugsfälle gefunden. Im Ranking der Prüfgruppe kommen die ÄrztInnen bislang vergleichsweise gut weg: Während etwa die Bremer Hebammen 445.000 Euro und die 17 ortsansässigen Orthopädie-SchusterInnen 71.500 Euro zu viel abgerechnet haben, ergaunerten Bremer ÄrztInnen nachgewiesenermaßen „nur“ 19.500 Euro – Geld, das sie von PatientInnen zusätzlich für Leistungen verlangt haben, die von den Krankenkassen bezahlt wurden.

Wie häufig die Mediziner darüber hinaus nicht erbrachte Leistungen berechnet haben, konnte Mankus gestern nicht sagen. In fünf Fällen bestehe noch der Verdacht, dass Bremer ÄrztInnen für Behandlungen Rechnungen gestellt hätten, obwohl die PatientInnen bereits tot waren, sagte Mankus. Prüfen müsse das jetzt die Kassenärztliche Vereinigung (KV). Befürchtungen, die KV könnte als Standes-Organisation schwarze Schafe unter ihren Mitgliedern decken, wischte Mankus beiseite. Die Vereinigung sei „an Aufklärung hoch interessiert“, sagte er.

Sollten ÄrztInnen tatsächlich Rechnungen manipuliert haben, hätten sie damit zunächst ihren KollegInnen geschadet. Denn das Budget, das allen Bremer MedizinerInnen zusammen für Behandlungen zur Verfügung steht, ist festgelegt. In welchem Umfang Ärzte ihre KollegInnen betrügen, war von der KV gestern nicht zu erfahren.

Um besser kontrollieren zu können, müssten die Krankenkassen mehr Einsicht in die Behandlungsdaten erhalten, forderte Roman Birk, bei der Handelskrankenkasse für Abrechnungsmanipulation zuständig, mit Blick auf die Datenschützer.

Nicht in jedem Fall, gab AOK-Prüfer Mankus gestern zu, führten falsche Abrechnungen auch zu einer Anzeige. Mit den orthopädischen Schustern etwa, die jahrelang teure Gipsabdrücke abgerechnet, aber billige Schaumstoff-Formen angefertigt hatten, habe man sich auf einen Vergleich geeinigt. Anzeigen nämlich, sagt Mankus, „hätten eine ganze Branche kriminalisiert“.

Armin Simon

Um Hinweise auf weitere Betrugsfälle zu bekommen, will die Prüfgruppe ab nächster Woche eine Telefon-Hotline schalten: ☎ 01801 - 250 260.