Das echte Theater probieren

„TuSch“ ist mehr als Theater-AG. Das Projekt bringt Schulen und Theater zusammen. Dabei entstehen professionelle Eigenproduktionen, wie das Stück „Nach der Möwe“, das in den Sophiensælen läuft

VON MAREN BEKKER

Die Möwe ist tot. Kostja hat sie erschossen und legt sie Nina zu Füßen. Die aber liebt Boris, einen erfolgreichen Musiker. Kostja ist verbittert. Sein Blick geht in die Ferne: „Irgendwann bringe ich mich auch um.“ „Du spinnst!“ Nina ist entsetzt. „Machen wir ne Zigarettenpause?“ fragt jemand vom Bühnenrand. Eine Schauspielerin fängt an zu kichern.

„Stop!“, ruft Regisseur Ulf Otto aus dem Zuschauerraum. „Du musst Nina direkt ansehen, wenn du sagst, dass du dich umbringen willst.“ Das sieht Benjamin, der den Boris spielt, anders: „Nee, das kommt voll gut psychomäßig, wenn der so wegguckt.“ Und die Nina-Darstellerin Barbara findet: „Niemand würde auf eine Selbstmorddrohung ‚Du spinnst wohl‘ entgegnen. Total unrealistisch.“ Ulf Otto hört aufmerksam zu und denkt nach.

Barbara, Benjamin und die anderen sind eigentlich keine Schauspieler. Die 16- bis 20-Jährigen gehen noch zur Schule. Seit vier Monaten arbeiten sie an ihrer Interpretation des Tschechow-Stückes „Die Möwe“. Ihre Arbeitsbedingungen sind aber besser als bei normalen Theater-AGs: Statt in einer schlecht beleuchteten Schulaula spielen sie in den Sophiensælen und im Maxim Gorki Theater. Regie führt keine Lehrerin mit Reclam-Schauspielführer, sondern ein Profi. Tanzszenen werden mit einer Choreografin einstudiert, eine Kostümbildnerin ist für die Kleidung verantwortlich.

Möglich wurde diese Zusammenarbeit durch „TuSch“, ein Projekt der Schulverwaltung, dass Berliner Theater und Schulen zusammenbringt. Wenig Geld, viel Idealismus – das ist das Konzept seit sechs Jahren. Mittlerweile haben fast alle Berliner Bühnen Partnerschaften mit Schulen. In Workshops lernen die Schüler alle Bereiche „ihres Theaters“ kennen – vom Marketing bis zum Bühnenbild. Zudem können sie sich für die Theaterproduktionen bewerben.

Die Plätze werden wie beim „Möwe“-Team verlost. „Es war großes Glück, dass ich hier dabei sein kann“, sagt Ayca. Die 19-Jährige macht gerade ihr Abitur. Sie schätzt das professionelle Arbeiten, auch wenn „das alles viel Zeit kostet“. Doch trotz der Proben an Wochenenden und in den Ferien ist die Theaterarbeit für Ayca „wie ein Ventil, besonders in der stressigen Abi-Zeit“. Nun möchte sie vielleicht Regie studieren.

Das ist ganz im Sinne von Renate Breitig von der Senatsschulverwaltung, Initiatorin und Leiterin von TuSch. Dennoch soll das Projekt keineswegs Arbeitsamtflure mit Theaterschauspielern füllen. Vor allem soll es Spaß machen – und die „Hemmschwelle“ zum Theater überwinden.

20.000 Euro Fördermittel bekommt TuSch pro Jahr. Davon werden alle Workshops und die drei Eigenproduktionen finanziert – „fast ein Wunder, wenn man überlegt, dass eine normale Produktion mindestens 50.000 Euro kostet“, sagt Renate Breitig. Das alles funktioniert dank engagierter Praktikanten – und mit Regisseuren wie Ulf Otto, die bereit sind, für nur ein bisschen mehr als zum Selbstkostenpreis zu arbeiten. „Die Schüler sind mit einer ganz anderen Euphorie dabei als bezahlte Schauspieler, das steckt an“, erklärt er seine Motivation. Er sehe sich weniger als Theaterpädagoge oder Regisseur, sondern vor allem „als Moderator“, sagt er. „Ich muss genau abschätzen, wann ich eingreifen und für Ruhe sorgen muss. Manchmal entwickelt sich nämlich aus irgendeinem Blödsinn was richtig Gutes.“

So wie heute: Ein paar Schüler stehen hinter der großen Leinwand am Bühnenrand, auf die ein Beamer strahlt. Eigentlich sollen sie nur mit Taschenlampen hin und her leuchten, doch immer wieder läuft einer durchs Bild. „Sieht eigentlich gar nicht schlecht aus mit den Schatten“, meint Otto. Das probieren Fritzi und Philipp aus, sie springen hin und her im Schein der Taschenlampen. Die anderen staunen über das Lichtspiel auf der Leinwand. Und rauchen möchte jetzt auch niemand mehr.

Aufführungen: heute, 20 Uhr, und morgen, 11 Uhr, in den Sophiensælen