„Das Wesen des Traumas“

Perspektive Deutsches Kino: Ein Gespräch mit Regisseur Nicolai Rohde und Drehbuchautor Hannes Klug über lebendige Tote, Dreharbeiten in der U-Bahn und ihren Film „Zwischen Tag und Nacht“

INTERVIEW DIETMAR KAMMERER

taz: In Ihrem Film wird der U-Bahn-Fahrer Achim, gespielt von Richy Müller, von der Erinnerung an eine junge Frau gequält, die sich vor seinen Zug geworfen hat. Er begibt sich auf die Suche nach Erklärungen, bis ihm die Tote, gespielt von Nicolette Krebitz, plötzlich auf der Straße begegnet. Die „zweite Ebene“, wie Sie es nennen, in der die tote Vera auftaucht, ist genauso realistisch gezeichnet wie die Alltagswelt des Films. Ich fand das schön, weil es so schlicht war, anstatt eine Irrealität in den Film zu bringen.

Nicolai Rohde: Das war schon in der Entwicklung die klare Entscheidung, beide gleichwertig zu behandeln und gar nicht erst das Spiel mit den Ebenen eindeutig zu definieren. Es wäre zu einfach, Vera nur als „Gespenst“ zu definieren, als Tote, die ihm erscheint. Sie ist mehr als das. Sie ist etwas, das er herstellt, um sich aus seinem Trauma zu lösen.

Während ich den Film sah, habe ich mich die ganze Zeit gefragt: Wie wird das ausgehen? Wäre es nicht denkbar, dass die Beziehung zwischen den beiden einfach so weiterginge, dass er es sich in seiner Fantasie einrichtet?

Hannes Klug: Dass er nicht in der Fantasie enden kann, war eigentlich immer klar. Wir hatten eine reale Figur mit einem echten Problem. Es geht darum, Achim, den U-Bahn-Fahrer, sein Problem lösen zu lassen. In welchem Stadium auch immer er am Ende dann bleibt. Ich glaube nicht, dass man den Film abschließen könnte, wenn er mit seiner Fantasie zusammen wäre. Damit bliebe die Geschichte in der Luft hängen.

Wie sind Sie auf Richy Müller gekommen?

Nicolai Rohde: Richy Müller ist jemand, der nicht spielt. Er ist eine Projektionsfläche, und er ist einer der wenigen Schauspieler in Deutschland, die das können. Die solch eine Präsenz haben, dass man sich in eine Figur wie Achim hineindenken kann. Er spielt dir nichts vor, was du zu glauben hast, er bietet dir eine Fläche.

Bei Nicolette Krebitz hatte ich den Eindruck, dass sie ziemlich viel von sich selbst in die Rolle hat einfließen lassen.

Nicolai Rohde: In die Entwicklung des Drehbuchs haben wir sie nicht mit einbezogen, aber in den Gesprächen hat sie sehr viel eingebracht. Eine Vielschichtigkeit. Vera ist ja nicht greifbar. Sie ist plötzlich super präsent, dann schwimmt sie dir wieder weg, flirrt so durch die Gegend. Sie hat wirklich alle Facetten. Das ist absolut Nicolettes Verdienst gewesen, diese Ideen mit einzubringen.

Gab es jemals die Überlegung, ein Motiv für Veras Selbstmord einzuführen, was jetzt im Film ja ziemlich im Vagen bleibt?

Hannes Klug: Vom Buch her fand ich, dass es die Figur reduzieren würde. Dann hätte die Projektion von Achim ja auch nicht mehr funktioniert, weil Achim ja genauso wenig weiß. Sie ist als Figur dadurch außerdem viel prägnanter als er. Es gibt diesen natürlichen Sog, den sie ausübt: Warum ist sie gesprungen, wer ist sie, warum hat sie das gemacht?

Ich fand das einen interessanten Widerspruch, dass sie tot ist, aber zugleich viel aktiver als er. Manchmal meint man, gleich packt sie ihn am Kragen und schüttelt ihn durch: Wach endlich auf!

Nicolai Rohde: Richy Müller meinte bei der Premiere in Saarbrücken zu Nicolette: Weißt du, du bist die Lebendige, nicht ich. Da hat er absolut Recht. Man freut sich jedes Mal, wenn sie auftaucht. Das ist eine Verdrehung, die toll ist.

Es gibt in dem Film einige Anspielungen auf das Kino. Vor allem in dieser einen märchenhaften Szene, in der die beiden auf dem Dachboden sitzen und die Stadt spiegelt sich vor ihnen an der Wand.

Hannes Klug: Die Szene auf dem Dach ist ja noch einmal eine Projektion. Sie bildet das Ganze noch einmal ab. Weniger im Hinblick auf „Kino“ als eher darauf, dass man etwas sieht, was nicht wirklich da ist. Man muss warten, bis die Augen sich daran gewöhnen, bis man das wahrnimmt, was die anderen nicht sehen, was nur man selbst sehen kann.

Auf der „Perspektive“ laufen dieses Jahr einige Filme, in denen die Hauptfiguren geradezu zwanghaft unterwegs sein müssen. Warum muss Vera immer in Bewegung bleiben?

Hannes Klug: Weil sie eine Figur ohne Ort ist. Achim ist auf seine Art auch so jemand, als einer, der sich unter der Stadt bewegt. Für den Film war die Vorstellung eines Labyrinths maßgeblich: dass die Stadt nichts ist, wo man einen Ort besetzt, wo man sich zu Hause fühlt und sich auskennt. Sondern dass sie im Gegenteil etwas ist, wodurch man sich bewegt, entlang irgendwelcher unklaren Bahnen.

Achim geht die Suche ganz allein an, nicht einmal mit seiner Freundin redet er darüber.

Hannes Klug: Man kann nicht darüber reden, es gibt dazu nichts zu sagen. Das ist das Wesen des Traumas, es spaltet sich von einem ab. Das sind autonome körperliche, psychische Erregungszustände, die wie von selber ablaufen, mit Flashbacks, mit zwanghafter Erinnerung an dieses Ereignis. Dafür haben wir diese „zweite Ebene“ eingeführt, diese Erlebniswelt, in die Achim abtaucht. Die ihn dann auch weiterbringt. Das ist die Sprache, die er findet, eine ganz persönliche, visuelle Sprache. Er muss sich da etwas zurückerobern. Er hat den Unfall schließlich gänzlich passiv erlebt, als ein Art Maschinenteil.

Wie sahen die Dreharbeiten unter Tage aus?

Nicolai Rohde: Wir hatten acht Drehtage in der U-Bahn und konnten nur nachts drehen, von eins bis morgens um vier. Mit Crew und Ausstattung sind wir als Einzige durch das Essener U-Bahn-System gerauscht, durch lauter leere Bahnhöfe. Es war eine völlig surreale Situation.

Diese Szenen haben den Film auch sehr dunkel gemacht.

Nicolai Rohde: Das war unser Bildkonzept. Auch die Räume, in denen sich Achim bewegt, sind bewusst dunkel gehalten. Weil das noch eine weitere Projektionsfläche bietet: Was ist da in diesem Dunkel eigentlich? Wenn die Räume klar ausdefiniert wären, würde das an Spannung verlieren.