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Archiv-Artikel

Neurosen unter Frauenröcken

Ein weiteres Sportstück der Befindlichkeit: Sebastian Nübling setzt „Don Karlos“ an den Münchner Kammerspielen politisch unscharf, aber anfangs furios in Szene. Doch dann verliert seine Studie der Hassliebe zwischen Vätern und Söhnen an Kraft

VON SABINE LEUCHT

Karlos ist sauer. Karlos ist verletzt. Ja mehr noch: Er ist außer sich. Weil er aber nicht aus seiner Haut kann, hat ihn die Regie in einen grauen Rollkragenpulli gesteckt. Den ganzen Infanten – mit kahl geschorenem Kopf und wild um sich schlagenden Armen. Da sitzt er nun ganz vorn auf einem die Tiefe der Bühne auslotenden Steg und sieht aus wie ein übergroßes Kaugummi. Er dehnt die Maschen und vergeht vor Liebe – zu Elisabeth, die Vater Philipp zu seiner Stiefmutter gemacht hat – vor allem aber vor Liebe zu sich selbst.

Der Anfang von Sebastian Nüblings Münchner „Don Karlos“ ist grandios, weil er die Grenzen seiner Hauptfigur aufzeigt, die die Grenzen ihres Körpers sind. Alles was sich außerhalb befindet, bleibt dem großen Kind verschlossen. Da kann es zetern, zappeln und das Rumpelstilzchen machen, wie es will, weder der begehrten Königin noch der Befreiung Flanderns kommt er näher. Und auch die Liebe des gefürchteten Vaters lässt sich so nicht erringen.

Sebastian Nübling, der Nachwuchsregisseur des Jahres 2002, der in diesem Jahr 44 wird, hat ein Händchen für inner- und zwischenmenschliche Spannungen, die sich auf der Bühne rhythmisch-eruptiv entladen. Seine Inszenierungen sind Sportstücke der Befindlichkeit, martialisch, aber sensibel. So war es eine kluge Entscheidung, Schillers Stück in der ersten Fassung von 1787 zu inszenieren, in der Carlos noch mit K und das Private großgeschrieben wird. Die Figuren sind hier noch weniger idealisiert – und Widersprüche steigern bekanntlich die Vitalität.

Den Marquis von Posa jedoch spielt René Dumont seltsam in sich gekehrt: im schwarzen Anzug eine Art Geschäftsmann der Freidenkerei – „der Abgeordnete der ganzen Menschheit“, der an der Rampe die UN-Menschenrechtscharta rezitiert und dazwischen sein „Geben Sie Gedankenfreiheit, Sir“ fallen lässt. Der weiß, was er will, und das zieht er durch. Zur Not auch gegen Karlos und sich selbst. Bloß als es ans Sterben geht für den Freund, nimmt ihm die Größe des Heldentods buchstäblich den Atem: Auf der Bühne der Münchner Kammerspiele opfert sich ein zitterndes, würgendes Tier, nicht „der göttliche Marquis“ vergangener Deutschunterrichtsstunden. Und die Geschichte, die Nübling da mit dem alten Stoff erzählt, ist ungleich spannender, als man sie erinnert. Zumindest bis zur Pause. Dann kann man dem Gang der Intrige und den politischen Verstrickungen wie schon damals nicht ganz folgen. Denn die großen Zusammenhänge sind Nüblings Sache nicht. Der Hausregisseur am Theater Basel inszeniert das Stück als eine Studie der Hassliebe zwischen Vätern und Söhnen, die vage an 68 denken lässt und vielleicht auch an die RAF.

Prinz Karlos und König Philipp und König Philipp und sein Vater Kaiser Karl V., dessen Totenschädel auf einem roten Kissen der einzige Farbfleck auf der schwarzen Bühne ist, sind verbunden durch Strafen, Argwohn und unerwiderte Liebe. So werden Paul Herwigs hyperaktiver Karlos und Hans Kremers Philipp einander mehr und mehr zu Spiegeln: Jeder braucht den anderen, um sich selbst zu erkennen – und beide zucken vor dem, was sie sehen, zurück. Im wahrsten Sinne des Wortes. „Nicht anfassen“, bettelt der König fast, als der Sohn sich ihm nähert. Kremer, der vor 19 Jahren auf derselben Bühne selbst als Karlos stand, und der hibbelig-kraftvolle Herwig sind ein wunderbares Paar – paranoid und ewig pubertär. „Ich bin doch nicht mehr fuffzehn“, spuckt Karlos anfangs Posa entgegen. Nicht? Mit Augenklappe und Zorro-Cape, mit entblößter Brust und immer einem „Fuck“ auf den Lippen ist Karlos on Tour.

Von den Männern, das hat schon seine Inszenierung von Tom Lanoyes „Mamma Medea“ gezeigt, denkt Nübling nicht besonders hoch. Die Königin dagegen ist in München als eine Mischung aus Domina, schwarzer Witwe und sehr viel Realitätsprinzip hergerichtet. Wie Matthias Bundschuh, der die verliebte Intrigantin Eboli spielt – die pure Verführung hart am Rande der Travestie –, überragt auch Anna Böger die Herren um Haupteslänge. Dazu hat ihr die Bühnen- und Kostümbildnerin Muriel Gerster ein langes Kleid verpasst, schwarz wie die ganze Bühne. Und der Clou: In den Ecken des Raumes wiederholt sich dieser Faltenwurf: Ganz so, als fänden die höfischen Neurosen im Schutz von Frauenröcken statt. Unter den Augen des Klerus oder einer anderen allmächtigen Spezies. Das muss der große Zusammenhang sein.