Trommeln mit dem Teufel

Nach den Buchskandalen der letzten Zeit: Das Haltbarkeitsfeuilleton schlägt zurück. Es verdammt den Zeitgeist, erkennt den Gesamtzustand der Literatur unserer Gegenwart als erbarmungswürdig und wartet seinerseits mit Büchern und Autoren auf, „deren Namen man auch in zwanzig Jahren noch kennt“

Schuld an der Lebensgeilheit von Literatur und Verlagen: die PopliteraturUmso bedrohter die Literaturkritik, umso stärker die Sehnsucht nach Haltbarkeit

VON GERRIT BARTELS

Die Literatur hat es schwer in diesen Tagen. Wohlgemerkt die Literatur, die es schafft, in Buchform zu erscheinen, dann auch käuflich zu erwerben und schließlich zu lesen ist – nicht die, die von Verlagen kurz vor Erscheinen oder kurz danach aus dem Programm genommen oder von Gerichten verboten wird. Denn das mediale Interesse richtet sich inzwischen hauptsächlich auf die verbotenen Bücher, die Skandalbücher, firmieren sie nun unter den Labels „Sachbuch“, „Klatschbuch“ oder eben „Literatur“. Der Rest läuft unter ferner liefen, selbst der vielerorts als „großartig“ eingestufte neue Roman von Christoph Hein. Aber ist der Gesamtzustand der zeitgenössischen Literatur deshalb gleich ein erbarmungswürdiger?

Das suggerierte zumindest unterschwellig Thomas Steinfeld, der Literaturchef der Süddeutschen Zeitung, als er vergangene Woche eine Abrechnung vornahm: mit der Literaturkritik der „Zeitgeistfeuilletons“ und den Verlagen, die gezielt auf Skandale spekulieren würden. Gerade die Verlage seien inzwischen nicht mehr in der Lage, „ein Publikum an sich zu binden“, deshalb „stellen sie das Leben selbst auf die Bühne, und am liebsten das Leben in seiner nacktesten, fiesesten und obszönsten Form, am allerliebsten in irgendeiner Verbindung mit dem Nationalsozialismus“. Die Literatur selbst, so Steinfeld weiter, verhalte sich dabei wie ein „Trüffelschwein“, immer auf der Suche nach den dunkelsten Winkeln der Gesellschaft, um sie ans helle Licht der Medienöffentlichkeit zu ziehen, und verliere dabei ihren Willen zur Form, ihre Schreibkunst, ihre Autonomie.

Bezieht sich Steinfeld vordergründig auf die „Fälle“ Biller, Herbst und besonders Kunkel, so nimmt er im Subtext den Rest der zeitgenössischen Literatur gleich mit in Sippenhaft. Zumal er auch eine Schuldige für die Lebensgeilheit von Literatur, Literaturkritik und Verlagen ausgemacht hat: die Popliteratur und ihre gegenwartsbezogene Ich-und-meine-Welt-Prosa. Nun hat das Leben nicht erst seit der Popliteratur haufenweise Steilvorlagen für die Literatur gegeben – man denke nur an die Hinwendung zu Realismus und Politik in den späten Sechzigerjahren, die bald in Formeln wie der vom „Tod der Literatur“ hier und der vom „totalen Kunstverlust“ dort zum Ausdruck kam. Oder an die sich anschließende Innerlichkeits- und Empfindsamkeits-Literatur der Siebzigerjahre mit ihrem Pochen auf Authentizität, Selbsterfahrung oder Subjektivität: Zum Teufel mit der Revolution, ich habe Schwierigkeiten mit meinem Orgasmus, hieß das damals. Wenn da nicht tonnenweise Leben drin war.

Doch auch abseits der Popliteratur der vergangenen Jahre gab es Autoren, die offensichtlich aus dem Leben „in seiner nacktesten und fiesesten Form“ schöpften und ihren Stoff mit ordentlichen bis guten Ergebnissen literarisch verarbeiteten: Thomas Hettche mit „Der Fall Arbogast“, Michael Kumpfmüller mit „Durst“, Norbert Gstrein mit „Das Handwerk des Tötens“ oder Birgit Bauer mit „Im Federhaus der Zeit“. Ein Justizirrtum, eine Kindertötung, ein toter Kriegsreporter, ein Lebensbornschicksal. Oder Uwe Timm mit seinem „Am Beispiel meines Bruders“. Timm verzichtete von vornherein darauf, seinen Lebens- und Familienstoff zu literarisieren, und schrieb ein eher leises, unspektakuläres, dafür umso eindringlicheres Buch über die Verstrickungen seiner Familie in den Nationalsozialismus.

Man könnte sich auch einfach mal der Bücher des Amerikaners Stewart O’Nan annehmen – ein Verkehrsunfall in seiner Heimatstadt lieferte die Idee und den Stoff für O’Nans neuesten Roman „Halloween“ und wurde von ihm zu mehr als einer bloßen Kolportage oder schlechter Literatur gemacht. Überhaupt Stewart O’Nan: Creative-Writing-School-Absolvent, also unter dem Verdacht, Formatliteratur zu schreiben, immer nahe an der Popkultur, wie schlimm!, aber ohne dass Ersteres seinen Büchern schaden oder Zweiteres bei ihm zum reinen Selbstzweck geraten würde – in Deutschland sucht er seinesgleichen.

O’Nan dürfte auch nicht den Anspruch haben, in die Ewigkeit einzugehen. Er ist beim Schreiben nicht in erster Linie auf „Haltbarkeit“ aus – eine Kategorie, die von der Literaturkritik, die nicht mit dem Zeitgeistfeuilleton verwechselt werden möchte, im Zusammenspiel mit „Eigensinn“, „Größe“ und „Erlösung“ immer wieder ins Spiel gebracht wird, wenn es um die Trennung von Spreu und Weizen in der deutschen Gegenwartsliteratur geht, wenn die Grenzen zwischen U und E mal wieder klar gezogen werden sollen, wenn Letztgültiges ansteht.

Es ist selbstverständlich eher unschön und ärgerlich, wenn das Zeitgeistfeuilleton jeden kleinen Debütanten überschwänglich und mit wortreichen Übertreibungen zum jeweils Allerallergrößten macht oder sich hauptsächlich durch Schnelligkeit auszeichnet – nur müsste eben das Haltbarkeitsfeuilleton dagegen einfach mal die Gstreins, Heins oder Genazinos auf ihre Aufschlagseiten setzen, so diese denn Großes in Romanform geschaffen haben. Das Problem aber: Ein großes Buch entfacht selten eine Debatte, Literatur braucht eben Zeit und kann nicht schnell reagieren. Und die Debatte ist noch immer, so widersinnig das sein mag, das liebste Kind des Haltbarkeitsfeuilletons. Her mit dem Politfeuilleton! Her mit den Debatten, den Texten zu Gesundheitsreform, zu Schröders Rücktritt vom Parteivorsitz, zum Thema Pornografie im Nationalsozialismus etc! Und: Eine Rezension gehört auf die Literaturseite!

Scheint das Haltbarkeitsfeuilleton darunter zu leiden, sich gleichfalls dauernd im großen Rauschen zu versenden, viel tolle Deutungen zu liefern, aber keine Deutungshoheit mehr zu haben, so ist es wiederum auch so eine Sache mit der Haltbarkeit in der Literatur: Ist sie überhaupt eine literarische Kategorie? Ist sie nicht nur das genauso platte Gegenteil zum schnellen, schrillen, grellen Leben? Muss Großes immer haltbar sein? Haben nicht jede literarische Ästhetik, jede literarische Form ihre Zeit? Geht es beim Produzieren von Literatur immer gleich um den Nachruhm?

Wo die Wogen aber hochschwappen und nur noch von Buchskandalen und Literaturevents die Rede ist, wo auch die eigene Arbeit, die bodenständig-brillante Literaturkritik, eine bedrohte Spezies ist, artikuliert sich die Sehnsucht nach der Größe und Haltbarkeit umso stärker. Sie stellt gewissermaßen den Reflex auf Augenhöhe da: In der Not muss man mit dem Teufel mittrommeln. So macht sich auch der Literaturkritiker Helmut Böttiger Sorgen darüber, dass die Literatur zurzeit nicht mehr über den Tag hinaus hält. In seinem im März erscheinenden Buch „Nach den Utopien. Eine Geschichte der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur“ stellt er ausschließlich Autoren vor, „deren Werk bereits erkennbar ist und deren Namen man auch in zwanzig Jahren noch kennt“, neben den obligaten Großen wie Grass, Walser oder Wolf AutorInnen wie Herta Müller, Markus Werner, Kathrin Schmidt oder Thomas Lehr.

Es ehrt Böttiger, wenn er versucht, für seine Lieblinge Denkmäler aufzustellen – nur sei dahingestellt, ob man in zwanzig oder fünfzig Jahren alle diese AutorInnen noch kennen will oder muss, ob man das jetzt schon wissen will oder muss, vor allem aber, wer diese dann noch kennt – das große Publikum, der weniger große Kreis von Literaturliebhabern oder die Menschen, die sich professionell mit Literatur beschäftigen?

Darüber hinaus verbindet sich Böttigers Einsatz für die dauerhafte Literatur mit einer zwiespältigen Haltung dem aktuellen Medien- und Literaturbetrieb gegenüber. Er beschreibt und analysiert diesen, doch immer wieder bricht bei ihm unverhohlen auch die Abneigung gegenüber dieser unschönen neuen Medienwelt durch. In einem Essay für die Zeit hat Böttiger kürzlich dargelegt, wie sich die Grenzen zwischen Primär- und Sekundärliteratur verwischt haben und die Medienkompetenz eines Autors inzwischen wichtiger geworden ist als seine Literatur. Dabei greift er vor allem den Literaturwissenschaftler Moritz Baßler an, der mit seiner Abhandlung „Der deutsche Pop-Roman. Die neuen Archivisten“ die Popliteratur mehr oder weniger akademisiert hatte: „Tauchen in einem literarischen Text Markennamen auf, ist er gut; fehlen sie, ist er schlecht“, so Böttigers mehr als polemisches Fazit von Baßlers Buch, das er als unseriös empfindet und als „Symptom“ für die zuweilen fahrlässige Durchlässigkeit von Primär- und Sekundärliteratur und dem Showcharakter der Popliteratur sieht. Merkwürdig aber findet Böttiger bei all den Hypes, Skandalen und Augenblicksbüchern, „dass es daneben immer wieder Texte gibt, die eine andere Halbwertszeit haben und auf den Eigensinn des Literarischen beharren. Sie müssen zwar länger warten, aber dann treten sie hervor.“

So brauchen bei Böttiger die Guten die Schlechten, die eigenbrötlerischen Langsamdreher die allglatten Schnelldreher – als ob beide nicht friedlich koexistieren könnten; als ob sich so mancher der Jungstars von Kracht über Parei bis Hermann nicht manchmal wünschen würde, in Ruhe gelassen zu werden und einfach nur schreiben zu können; und als ob beispielsweise die immer wieder bemühten „Tristesse-Royale“-Jungs ihr eigenes Verschwinden nicht gleich mit auf dem Masterplan gehabt hätten. „Nach dem Pop“ war Böttigers Text in der Zeit überschrieben, eine Zeile, die etwas dumpf Triumphierendes hatte.

Natürlich ist Böttiger mit seinem Buch selbst ein Wanderer zwischen den Welten – auch er beweist jetzt seine Medienkompetenz, auch er schaut, dass er sein Buch eloquent vermarktet. Ende Januar konnte man ihn dabei erstmals beobachten, im Literarischen Colloquium in Berlin, wo er „Nach den Utopien“ vorstellte. Moderiert vom Literaturkritiker Denis Scheck, traf Böttiger hier auf die beiden Kritikerinnen Klara Obermüller und Sigrid Löffler sowie den Schriftsteller Norbert Niemann, der zusammen mit dem Literaturkritiker Eberhard Rathgeb vor kurzem ebenfalls eine Art Gegenwartsliteraturgeschichte veröffentlicht hat, ein „deutsches Lesebuch 1945–2003“ namens „Inventur“.

Das passte vorzüglich, denn dieses im Hanser Verlag erschienene Buch möchte zwar auswählen, wie es im Klappentext heißt, „was für einen Leser heute noch Sprengkraft besitzt“, und ignorieren, „was nur noch museal ist“. Literatur also, die noch lebt, selbst Jahrzehnte nach ihrer Verfertigung. Es betreibt aber nolens volens eine auf Haltbarkeit ausgerichtete Auslese innerhalb eines starren, nach Dekaden eingeteilten Ordnungssystems. Und so sehr die Herausgeber auch betonen, keinen Kanon aufstellen zu wollen: Es wirkt trotzdem so, als könnte in dieser Zeit, in der ja alle halbe Jahre ein neuer Kanon aufgestellt wird, auch ein „Lesebuch“ wie dieses ein erfolgversprechendes Rezept sein gegen die Übermacht von Zeitgeist und Medienblabla. In Auftrag gegeben von der Bundeszentrale für politische Bildung bringt dieses Buch die Kids auf den rechten Literaturpfad und hat zum Schluss noch ein Wort zum Sonntag parat angesichts des Pop-Hypes der letzten Dekade, „in der die Realität schneller gewesen sei als die Kunst“: „Literatur, die auch Politik sein möchte, erzählt davon, [von der schnellen Realität], statt darauf zu schielen, selbst zum Medienereignis zu werden.“

Nun erinnerte diese Veranstaltung im LCB unter dem bezeichnenden Titel „Was bleibt?“ manchmal an einen netten kleinen Betriebsausflug. Trotzdem wollte gerade Sigrid Löffler sich nicht an alle Gepflogenheiten der Höflichkeit halten und bewertete als Kritikerin streng die Bücher ihrer Kritikerkollegen. Nachdem sie das „Lesebuch“ mit einigen harschen Worten kritisiert hatte, erklärte sie sich erst sehr einverstanden mit Böttigers Auswahl und Porträts. Bemäkelte dann aber den lautsprecherischen, auf das große Ganze der neuen Gegenwartsliteratur abzielenden Untertitel des Buches und die Kapitelüberschriften, etwa „Humor und Melancholie“ oder „Das Wissen, die Leere, das Ich“. Und blickte schließlich tief ins Nähkästchen des Betriebs und mutmaßte: „Wahrscheinlich waren erst Ihre Texte und Porträts da, und dann mussten Sie nachträglich noch Etiketten draufkleben.“ Woraufhin Böttiger sich verteidigte, zwischendrin aber den Satz fallen ließ: „Sie wissen doch, wie das bei Verlagen so läuft, Frau Löffler.“

Leider weiß das Publikum nicht, wie es so läuft bei den Verlagen. Böttigers ursprünglich subjektive Bestandsaufnahme kollidiert da schon mal mit dem Anliegen des Verlags, das Buch als eine ultimative, objektive und damit besser verkäufliche Bestandsaufnahme zu veröffentlichen. „Was ist Literatur?“ heißt Böttigers Einleitung, gefolgt von „Was ist Kritik?“ Hier muss eben der große Überbau her, hier muss ein Bedenkenträgertum bezüglich des Überhandnehmens von Service, Unterhaltung oder Quote gleich mit ins Rennen geschickt werden. Dass Böttiger aber eine Christa Wolf auf sieben und einen Martin Walser auf zehn Seiten vorstellen kann, dass es Niemann und Rathgeb schaffen, auf vierhundert Seiten über hundert Autoren und fast sechzig Jahre Literatur und Politik in sorgfältig zurechtgeschnittenen und in die Zeit gepassten Häppchen vorzustellen – das will schon was heißen. Da scheinen auch die Verfechter der guten, wahren, schönen und haltbaren Literatur nach der Devise zu verfahren: Vom Zeitgeist lernen heißt siegen lernen.