Herrn Lehmanns Plan

Jens Lehmann ist zweifacher Olympiasieger sowie sechsfacher Weltmeister im Bahnradfahren. Für die Nationalmannschaft war er zuletzt dennoch gesperrt. Heute will er sich für Olympia empfehlen

AUS LEIPZIG FRANK KETTERER

Es surrt. Unaufhörlich. Gleichförmig. Selbst draußen vor der schweren Metalltür ist das monotone Brummen zu hören, das auch die sanft aus dem Autoradio rieselnde Unterhaltungsmusik nicht zu übertönen vermag. Dann hebt sich das breite Tor und gibt den Blick frei aufs Innere. Zum Vorschein kommen: ein blauer Van – und ein Olympiasieger bei der Arbeit. Ganz hinten in der Garage, zwischen Auto, Langlaufski, Leiter, Grill und allerlei an der Wand hängenden Fahrrädern, sitzt Jens Lehmann auf dem Fahrradergometer und strampelt vor sich hin. Drei Stunden, knapp 110 Kilometer, die meisten von ihnen über 10 Prozent Steigung, stehen an diesem noch frühen Vormittag an. Schweiß rinnt an Armen und Beinen hinab, der drahtige Körper dampft vor Hitze. Jens Lehmann keucht, in seinen Mundwinkeln hat sich Schaum gesammelt. Er sagt: „Ich fahre nach wie vor gerne Rad. Ich sehe das nicht als Arbeit an.“

Ersteres darf man dem 36-Jährigen getrost glauben. Letzteres hingegen ist nur die halbe Wahrheit. Denn natürlich ist das Radfahren Arbeit für Jens Lehmann, sein Job, der Broterwerb. Seit fast zehn Jahren fährt er nun schon als Profi ums Holzoval, auf dem er es zum erfolgreichsten deutschen Bahnrad-Fahrer gebracht hat. Zweimal Gold bei Olympia, 1992 und 2000, im Vierer, zweimal Olympiasilber in der Einerverfolgung, zudem sechs WM-Titel plus weitere sieben WM-Medaillen. Jens Lehmann ist einer der Großen im deutschen Radsport, auch wenn das im Lande Ullrichs bisweilen in den Hintergrund gerät. Lehmann stört das nicht. Er sagt: „Man kann die Bahn nicht mit der Straße vergleichen. Das ist wie Äpfel und Birnen.“ Er sagt auch: „Ich bin mit Leib und Seele Bahnfahrer und ein zufriedener Mensch.“ Der Wechsel auf die Straße habe ihn jedenfalls nie interessiert, schon als Kind habe ihn die Tour de France und sogar die Friedensfahrt eher kalt gelassen. Selbst aus wirtschaftlicher Sicht habe nie ein Grund bestanden, auf die Straße zu gehen. „Wenn man gut ist, kann man auch auf der Bahn Geld verdienen“, erzählt Lehmann, für einen Profi ist das ja nicht unwichtig. „Ich habe immer gutes Geld verdient“, sagt Lehmann, er ist schließlich einer der Besten. Man kann das sogar sehen: am schmucken Einfamilienhäuschen, das er vor ein paar Jahren im Leipziger Stadtteil Engelsdorf gebaut hat.

Hier wohnt Jens Lehmann zusammen mit Ehefrau Gabi und seinen Kindern Florian (6) und Anna (4). Besser gesagt: Er tut das, was man so wohnen nennt bei einem, der vier Fünftel des Jahres unterwegs ist in Trainingslagern und bei Wettkämpfen. Manchmal heißt das nicht viel mehr als Koffer auspacken, Koffer einpacken; selbst an Weihnachten hat es diesmal nicht zu mehr als zehn Tagen zu Hause gereicht, schon am 2. Januar ist er wieder ins Trainingslager nach Mallorca aufgebrochen. Jens Lehmann ist eine Art Handlungsreisender in Sachen Bahnradsport, den er ein bisschen auch als Familienbetrieb betreibt. Er fährt Rad, Gattin Gabi, auch sie einst, zu DDR-Zeiten, erfolgreiche Radsportlerin, besorgt „95 Prozent von dem, was sonst noch so anfällt“, Managementaufgaben inbegriffen. Die Familie Lehmann hat ihr Geschäft gut geregelt. „Ich sehe es nach wie vor als Privileg an, so zu leben, wie ich lebe“, sagt Jens Lehmann.

Dabei war das Leben als Jens Lehmann in der jüngsten Vergangenheit nicht eben leicht. Als Rebell, Boykotteur, Erpresser galt der Mann aus Leipzig in den Medien, nachdem er bei der Bahnrad-WM letzten Juli in Stuttgart aus Protest gegen die willkürliche Nominierungspolitik der Trainer seine Teilnahme im Vierer in Frage gestellt hatte – ebenso wie die Kollegen Becke und Siedler. Der Bund Deutscher Radfahrer (BDR) sagte den Start in der Paradedisziplin kurzerhand ab, erstmals seit 1962 nahm kein deutscher Bahnvierer an der WM teil (siehe taz vom 15. Januar). Lehmann wurde als Hauptschuldiger ausgemacht und aus der Nationalmannschaft verbannt. Er wurde zum Fall Lehmann, und dieser zu einem Fall für die Anwälte, erst Mitte Januar erfolgte das Einlenken: Lehmann, so entschied das BDR-Präsidium, solle nun doch die Möglichkeit erhalten, „im Rahmen der mit dem NOK abgestimmten Nominierungskriterien für internationale Wettkämpfe und die Olympischen Spiele in Athen“ seine Eignung unter Beweis stellen zu können. Wie die Kriterien aussehen, beschreibt Sportdirektor Burckhard Bremer: „Danach muss jeder Fahrer neben der sportlichen Leistung Teamfähigkeit mitbringen.“ Die sportliche Leistung fragt der BDR heute bei einem ersten Qualifikationsrennen in Frankfurt (Oder) ab. Wie aber tut er das mit der Teamfähigkeit der Sportler? „Es kann nur einen harmonischen Vierer geben, wenn man sich gegenseitig vertraut“, sagt Bremer. Wie aber soll Vertrauen aufkommen unter vier Athleten, die sich bis vor kurzen noch gegenseitig bekriegt haben?

Für Jens Lehmann stellt sich diese Frage nicht, und das nicht nur, weil er sich keineswegs als Rebell sieht oder Quertreiber. „Wenn ich in Frankfurt versage, muss ich mich um Athen erst gar nicht mehr bemühen“, sagt der Mann aus Leipzig. Er sagt aber auch: „Das wird nicht passieren. Die Bahn in Frankfurt liegt mir.“ Und dann will er mitmischen bei Olympia, im Einer wie im Vierer, egal mit wem. „Die Besten sollen fahren“, sagt Lehmann, das war schon immer seine Maxime. Nicht um Namen geht es ihm, sondern um Leistung. „Die alleine zählt“, sagt er, so hat er es, aufgewachsen im nicht eben zimperlichen DDR-Sportfördersystem, von Kindesbeinen an gelernt: Nur der Beste kommt durch. Und die vier Besten fahren in der Mannschaft. Für nette Sozialromantik findet sich in Lehmanns Verständnis von Leistungssport jedenfalls kein Platz; mit dem Bild der vier um die Bahn radelnden Freunde räumt er ziemlich emotionslos auf: „In Sydney“, sagt Lehmann, wo er mit Daniel Becke, Robert Bartko und Guido Fulst Gold gewonnen hat, „haben wir in drei Wochen fast kein Wort miteinander geredet. Aber wir sind Weltrekord gefahren.“ Dass Lehmann, Bartko und Fulst sich nicht eben grün waren und es seit der WM von Stuttgart noch weniger sind, ist in der Szene kein Geheimnis. Lehmann sagt: „Wir sind alle Profis.“ Und: „Ohne Bartko hätten wir in Sydney nicht gewonnen.“

Sydney ist vorbei, Athen steht vor der Tür. Olympia 2004 soll der Schlusspunkt sein unter seine große Karriere, so jedenfalls sieht es sein Lebensplan vor. Das heutige Rennen in Frankfurt (Oder) könnte entscheiden, ob er seinen Plan einhalten kann.