stefan kuzmany über Alltag
: Der Frontverlauf am Hinterreifen

Darf ich mir während des Kriegs über das Wetter Gedanken machen? Nur wenn die Wollhandschuhe in der Wäsche sind

Sie haben sie doch auch gesehen. Ich habe sie jedenfalls gesehen. Es waren eindeutig Sonnenstrahlen zu sehen in den letzten Tagen, kann mir doch niemand etwas anderes erzählen. Und sind nicht sogar wagemutige Menschen dabei beobachtet worden, wie sie bereits in Straßencafés unter freiem Himmel ihr Hefeweizen verzehrten? Doch, sind sie. Aber jetzt ist sie wieder weg, die Sonne. Und es regnet dicke Tropfen. Ah, da ist sie ja wieder. Aprilwetter.

Darf man sich eigentlich über das Wetter Gedanken machen, während Krieg ist?

Gestern habe ich meine Wintermütze genommen und auch die Wollhandschuhe und beides in die Waschmaschine gesteckt. Ich weiß, die werden drei Tage brauchen, bis sie wieder trocken sind, so wie die sich voll gesogen haben. Aber das macht nichts. Ich brauche sie ja nicht mehr. Denn jetzt ist Frühling. Es wird warm. Es muss warm werden. Da hängen sie an der Wäscheleine auf dem Balkon und tropfen, die Mütze und die Handschuhe, direkt über meiner Kaffeetasse. Fast hätte der rechte Handschuh in meinen Kaffee getropft. Meine Lieblingsfaschistin ist skeptisch. „Die wirst du wieder brauchen, bevor sie trocken sind“, sagt sie mit einem kritischen Blick auf die Wintersachen. Eigentlich mag ich es, wenn sie kritisch blickt.

Aber in letzter Zeit tut sie das zu oft. Seit neuestem muss ich mich einem rigiden Gewichtsinspektionsregime unterwerfen. Inklusive Ultimatum: 15 Kilo weniger bis zum Ende des Sommers, ansonsten drohen ernste Konsequenzen. Also gut. Es muss Fahrrad gefahren werden, hilft ja alles nichts.

Mein Fahrrad ist wie ein alter Beamter: schon lange im Amt, aber sehr untätig. Vor zwei Jahren habe ich es in einem Innenhof in Berlin-Neukölln im Fahrradständer stehen gelassen und vergessen, es wurde Winter, dann zog ich um, dann zog ich noch mal um, dann war ich überzeugt davon, es sei weg. Weil ich aber gern mal Unwahrscheinliches glaube, schaute ich vorgestern doch noch mal nach. Tatsächlich: Da stand es noch. Nicht gestohlen. Nicht zusammengetreten. Ha! Es war sogar noch Luft in beiden Reifen! Ich schob es heim.

Am nächsten Tag machte ich mich damit auf den Weg zur Arbeit. Ein herrliches Gefühl. Na gut, ein wenig zieht es in den Waden, aber das geht vorbei. Ah, wie der Stadtteil an mir vorüberfliegt. All die Menschen und Gerüche!

Viel besser als Bus fahren. Zwar gibt es da ebenfalls Menschen und Gerüche zu erleben, aber die erinnern selten an den Frühling. Denke ich noch. Zwei Kilometer sind gefahren, da platzt der Hinterreifen mit einem lauten Knall. Der Mantel war wohl doch schon etwas porös oder der Schlauch wie die Nase von Michael Jackson: oft geflickt, aber nicht mehr dicht.

Zum Umkehren ist es zu spät. Aus dem Fenster über mir lehnt eine alte Frau und kommentiert trocken: „Geplatzt, wa?“ Es fängt an zu regnen. Die alte Frau sagt: „Keen Regenschirm, wa?“ Dann verlässt sie ihren Aussichtsplatz und schließt das Fenster.

Daheim betrachtet meine Lieblingsfaschistin gerade die Bilder der Tank-Cam, der auf einem amerikanischen Panzer angebrachten Kamera, die von CNN weltweit übertragen werden. Eine tolle Sache: Man hat den Eindruck, dass man ganz nah dabei ist, ganz viel sieht und erfährt, aber tatsächlich ist es so, dass man nur wenig sieht und eigentlich überhaupt nichts erfährt. Während ich das Hinterrad meines Fahrrads repariere, kommentiert meine Lieblingsfaschistin das Geschehen.

Ich hatte fest daran geglaubt, dass der Krieg wäre zu verhindern gewesen wäre, ganz im Gegensatz zu ihr. Seit Krieg ist, interessiert er mich aber nicht mehr sehr. Zwei Wochen erst. Und ich bin schon kriegsmüde. Aber weil es sehr lange dauert, bis so ein Hinterreifen repariert ist, bin ich, als das Fahrrad wieder einsatzbereit ist, bestens informiert über Frontverlauf, Zangenbewegungen und Checkpointschießereien.

„Darf man sich eigentlich über das Wetter Gedanken machen, während Krieg ist?“, frage ich. „Du solltest dir die Worte ‚man‘ und ‚dürfen‘ langsam mal abgewöhnen“, sagt sie und schaut wieder mal kritisch.

„Hoffentlich hört es bald auf zu regnen“, sage ich. Meine Lieblingsfaschistin deutet durch das Balkonfenster auf die Wäscheleine mit den Wollsachen. Sie sind wieder genauso nass wie in dem Moment, als ich sie aus der Maschine geholt habe.

Fragen zum Aprilwetter?kolumne@taz.de