Die neue Besiedlung ist da

Je geschwächter ein Gemeinwesen ist, desto näher kommen ihm die Wölfe. Viele Gebiete entlang der Oder-Neiße könntensich deswegen bald zu Wolfshochburgen entwickeln. Doch die friedliche Nachbarschaft von Wolf und Mensch ist möglich

Die Menschen werden nomadisch-wölfisch, die Wölfe sesshafte Siedler

von HELMUT HÖGE

Für den Naturforscher Buffon war der Wolf vor allem „niederträchtig“, das heißt „schädlich, wenn er am Leben, und zu nichts nütze, wenn er tot ist“. Überhaupt galt der Wolf in Frankreich lange Zeit als das „böseste Tier“ von allen, als dasjenige, das „den meisten Schaden anrichtet“. Von 1870/71 bis zum Zweiten Weltkrieg waren Wolf und „boche“ (die Deutschen) deswegen Synonyme. Mit der Besetzung der Hauptstadt entstand das Lied „Les Loups sont entrés dans Paris“: Die Wölfe sind in Paris.

Die realen Wolfsrudel Westeuropas bekamen immer wieder Zulauf von Einzelgängern aus Sibirien, deswegen konnte man sie hier nie ganz ausrotten. Erst mit dem Eisernen Vorhang war damit Schluss, zudem gab es keine Schonzeit für Wölfe im Sozialismus. Mit der Wiedervereinigung und dem eher darwinistischen Neoliberalismus kam es jedoch zu einem ganzjährigen Jagdverbot des nunmehr „streng geschützten Tieres“, zudem wurde ein „Wiederansiedlungs-Management-Plan“ in Brandenburg verabschiedet. Da die neuen Industrialisierungs- und Revitalisierungsprojekte für Ostelbien alle scheiterten und deswegen immer mehr Menschen auf Arbeitssuche von dort weg und in den Westen zogen, siedelten sich denn auch tatsächlich immer mehr Wölfe an, besonders im entvölkerten Grenzgebiet der Oder-Neiße, wo zudem weiterhin ganze Dörfer dem Braunkohleabbau weichen müssen. Auf einem Truppenübungsplatz in der Muskauer Heide hat sich bereits ein zwölfköpfiges „sächsisches Rudel“ angesiedelt.

Einige Historiker nahmen früher an, je geschwächter und niedergeschlagener ein Gemeinwesen ist, desto näher kommt ihm der Wolf. Die „Schwache Dörfer – starke Wölfe“-Theorie! Demnach müssten die Städte Görlitz, Muskau und Guben schon bald wahre Wolfshochburgen sein, denn dort nimmt nicht nur die Abwanderung der deutschen Bevölkerung zu, sie erfasst jetzt auch schon die polnische auf der anderen Seite der Oder-Neiße.

So wurden bereits die ersten „Wolfsfrauen“ im Notstandsgebiet quasi fest angestellt. Auf deutscher Seite sind das die Wolfsexpertinnen Gesa Kluth und Ilka Reinhardt, auf polnischer Sabina Nowak. Sie klären die verunsicherten letzten Einheimischen auf, vor allem die Schäfer. Aber auch die Jäger, die zwar behaupten, froh über die neue Wolfs-Konkurrenz zu sein, da es genug Schalenwild in der Lausitz gebe, die aber dennoch gelegentlich und angeblich aus Versehen einen Wolf abschießen, weil sie ihn, wie sie sagen, mit einem Hund verwechselten. Diese „Streuner“ dürfen ganzjährig gejagt werden.

Kürzlich fand in der Muskauer Heide die erste „Wolfskonferenz“ statt. Erst sollte ich auch dort hinkommen, aber dann nahm man wieder Abstand davon – angeblich wegen meiner allzu wolfskritischen Einstellung. Auch ein Wolfstext für die Net-Zeitung zerschlug sich – allerdings bloß wegen angeblich zu großer taz-Nähe. Als ein regelrechtes Wolfsorgan hat sich derweil die Lausitzer Rundschau entpuppt, wo ein ehemaliger taz-Mitarbeiter Chefredakteur ist. Am 21. 3. vermeldete die Lausitzer Rundschau, dass es die Wölfe aus dem „Städtedreieck Weißwasser, Bautzen und Hoyerswerda in den Süden des Spree-Neiße-Kreises verschlagen“ hätte. Dazu wurde die Expertin Gesa Kluth zitiert: „Wölfe können in alle Himmelsrichtungen weiterziehen!“ Kluths Wolfsforschung in Südbrandenburg wird inzwischen vom „Internationalen Tierschutzfonds“ unterstützt.

Die drei „Wolfsfrauen“ Kluth, Nowak und Reinhardt werden von Konfliktexperten als Untergruppe der Kriegsforschung begriffen. Dabei gefallen sich die Männer durchweg in abgeklärter Politikberatung, während die Frauen sich eher neoexistenzialistisch in Gefahr begeben. Erwähnt seien die Interviews von Swetlana Alexijewitsch mit Afghanistanveteranen, „Zinkjungen“; Gaby Webers Buch über lateinamerikanische Partisanenführer, „Die Guerilla zieht Bilanz“; „Mehmets Buch“ von Nadire Mater über türkische Soldaten, die gegen die PKK kämpften; Carla Solinas Bericht über PKK-Partisanen: „Der Weg in die Berge“; Eva Horns Studie über „Geheimdienste“; Anne Nivats Reportage über die tschetschenischen Rebellen: „Mitten durch den Krieg“, und Elisabeth Madlers Doktorarbeit über Kleist: „Die Kunst des Erwürgens nach Regeln“.

Anfänglich fielen die Kriegsforscherinnen noch der Lächerlichkeit anheim: So wurde Alice Schalek, laut FAZ die „Mutter aller Schlachtreporter“, erst durch die ätzende Zitierung von Karl Kraus in seinem Drama „Die letzten Tage der Menschheit“ berühmt. Schalek ähnelte bereits der CNN-Reporterin Kristijan Amanpur, die einmal auf die Frage, warum sie ständig Kommentare vor irgendwelchen internationalen Drohkulissen in die Kamera spreche, antwortete: „It feeds my ego!“

Von den ersten Kriegsberichterstatterinnen wie Agnes Smedley unterscheiden sich die heutigen Kriegsforscherinnen darin, dass sie meist nicht mehr sentimental gestimmt sind. Auch zu den Wolfsfrauen stehen sie in einem Gegensatz: Während sie von der Gefährlichkeit ihrer „Subjekte“ überzeugt sind, erst recht von deren Gegnern, gehen die Wolfsfrauen von der „Möglichkeit einer ruhigen Nachbarschaft zwischen Mensch und Wolf“ aus, das heißt, sie sind von der Ungefährlichkeit „ihrer“ Raubtiere überzeugt.

Laut Berliner Zeitung ist Gesa Kluth sogar „fast zu jeder Zeit bereit“, sich diesbezüglich „den Mund fusselig zu reden“. Umso mehr, als sie wie ihr berühmtes Vorbild, der US-Wolfsforscher Mike Jiminez, die Auffassung vertritt, „dass ihre Mühe um den Wolf vor allem die Mühe um die Menschen“ ist, „in deren Nähe Wölfe siedeln“.

Alles ist möglich, und alles dreht sich: Die Menschen werden nomadisch-wölfisch und die Wölfe sesshafte Siedler. Demnächst grillen sie ihre Schafe mit Lausitzer Braunkohle.

Nähere Informationen zur Früherkennung, „Wolf oder Hund?“, gibt es beim Landesjagdverband unter: www.ljv-brandenburg.de. Die deutschen Jäger fühlen sich durch die Anwesenheit von Hunden in ihrem Revier anscheinend ähnlich entehrt wie viele Mohammedaner. Während die flüchtige Erscheinung eines Wolfes am Horizont eine verwandte Saite in ihnen anklingen lässt. So wird man natürlich leicht zur Beute – für weibliche Kriegs- und Wolfsforscher.