Die Schlinge zieht sich zu

Allmählich offenbart sich das Netzwerk aus Schmugglern, Freischärlern, Polizisten und Politikern hinter Karadžić

VON ERICH RATHFELDER

In Sarajevo ist Radovan Karadžić allgegenwärtig. Viele Gespräche drehen sich um ihn. Vor allem wenn Besucher aus dem Ausland kommen: „Warum ist er immer noch nicht festgenommen?“, fragen sie verwundert. Fast neun Jahre nach dem Krieg in Bosnien und Herzegowina lebt jener Mann noch frei im Untergrund, der nach der Anklage des Kriegsverbrechertribunals in Den Haag als einer der größten Kriegsverbrecher nach dem Zweiten Weltkrieg gelten kann. Der Mann also, der Massenmord an Zivilisten für ein legitimes Mittel hält, um politische Ziele zu erreichen. Er bleibt verschwunden, fast ohne Spur.

Für die überlebenden Opfer ist das nicht nur unverständlich. Sie leiden darunter. Es sind hunderttausende, die damals in den Lagern saßen, der Willkür der Wachmannschaften ausgesetzt, die geschlagen und gefoltert wurden. Noch heute werden sie von Albträumen verfolgt. So wie Emir, ein Rentner aus Sarajevos Stadtteil Ciglane, der nicht gern über das Lager in Rogatica in Ostbosnien spricht, wo er mehrere Monate gefangen war. Der aber manchmal, spät abends, in der Bar nach einigen Schnäpsen und ein paar Gläsern Bier von Weinkrämpfen geschüttelt zusammenbricht. Als bosnischer Muslim, als Mitglied jener Volksgruppe, die fast zehn Prozent ihrer Bevölkerung durch Krieg und Verfolgung verloren hat, wirft er den internationalen Institutionen, die Bosnien eigentlich regieren, vor, untätig zu sein. Er geht sogar noch weiter. Der „christliche Westen“ schütze Verbrecher, die gegen Muslime vorgegangen sind.

Sein Verdacht ist nicht ganz unbegründet. Während des Krieges zeigte der Westen zunächst eine unentschiedene Haltung gegenüber jenen, die für die ethnischen Säuberungen und den Aufbau von Konzentrationslagern verantwortlich waren. Über dreieinhalb Jahre war Sarajevo eingeschlossen, noch 1995 zögerte die UNO, gegen den Massenmord in Srebrenica, wo 8.000 Menschen vor den Augen der Weltöffentlichkeit unter brutalsten Umständen ermordet wurden, einzuschreiten. Auch später noch, nach dem Krieg, halfen einzelne Mitarbeiter der internationalen Organisationen den heute vom UN-Kriegsverbrechertribunal in Den Haag gesuchten Personen. Die Gerüchte, französische Militärangehörige und britische Geheimdienstler hätten noch einige Jahre nach dem Krieg mit Karadžić kooperiert, haben sich inzwischen sogar bestätigt. So hat der französische Major Hervet Gourmelon, der nach dem Krieg engen Kontakt zu Karadžić hatte, ihn vor dem Zugriff seiner Kollegen gewarnt. Gourmelon musste zwar 1998 Sarajevo verlassen, nachdem die Sache ruchbar wurde, er ist aber weiterhin als Logistik-Offizier in der Bretagne im Dienst der französischen Armee.

Und auch Geoffrey Beaumont pflegte als Liaisonoffizier der UN in der Extremisten-Hochburg Pale enge Kontakte zu Karadžić. Nachdem der abgetaucht war, besuchte Beaumont oft die Familie. Karadžić’ Frau Ljiljana war noch bis 2002 Chefin des serbisch-bosnischen Roten Kreuzes. Der bis Ende 2002 aktive Chef der UN-Polizei, die für den Aufbau der lokalen Grenzpolizei zuständig war, gehört offenbar zu jenen UN-Mitarbeitern, die nach Berichten der lokalen Presse im Geruch stehen, insgeheim nicht nur Karadžić, sondern auch seinen kriminellen Untergrund gedeckt zu haben.

Unbewiesen, aber durchaus plausibel sind Informationen, wonach mehrere militärische Suchaktionen seit 2001 von internationalen Mitarbeitern an Karadžić verraten wurden. Mehrmals kam es zu Auseinandersetzungen zwischen dem Tribunal in Den Haag und den Kommandeuren der SFOR-Truppen sowie der Polizei der UN in Bosnien, die sich lange Zeit in Bezug auf Kriegsverbrecher für unzuständig erklärten. Die Gefahren, denen sich Polizisten bei jedem Banküberfall mit Geiselnahme aussetzen, sollte den zu Kampfmaschinen ausgebildeten Spezialtruppen in Bosnien mit Karadžić und seinen Bodyguards erspart bleiben.

Neben der bosnischen Öffentlichkeit hat Carla del Ponte, die Chefanklägerin von Den Haag, bei Einzelpersonen und Menschenrechtsorganisationen in den USA und Europa Unterstützung gefunden. Politiker wie Richard Holbrooke und Madeleine Albright, die Architekten des Dayton-Abkommens, einige US-Senatoren, Europaabgeordnete wie Doris Pack und die Grünen-Politikerin Angelika Beer, Menschenrechtsorganisationen wie die Gesellschaft für bedrohte Völker und viele andere setzen sich dafür ein, den Kriegsverbrecher festzunehmen. Bei Momčilo Krajišnik, den serbischen Kommandeuren von Srebrenica und zwei Dutzend kleineren Fischen gelang dies, warum also sollte Karadžić wie sein Militärchef Ratko Mladić immer wieder entwischen können?

Doch inzwischen scheint sich was zu rühren. Die internationalen Institutionen in Bosnien sind unter weiteren Druck geraten, seit Saddam Hussein in seinem Erdloch aufgespürt worden ist. Wenn man wirklich will und alle Kräfte konzentriert, ist es möglich, die Verstecke solcher Leute zu finden, heißt die Lehre aus dem Irak. Bosnien ist viel kleiner, und mit derzeit 7.000 dort stationierten SFOR-Soldaten ist trotz des Truppenabbaus der letzten Jahre eine mit dem Irak vergleichbare Dichte an ausländischem Militär im Lande. Es fehlte bisher offenbar vor allem an dem politischen Willen, Karadžić festzunehmen, so jedenfalls glaubt die Öffentlichkeit in Sarajevo.

Nach jüngsten Äußerungen von Diplomaten treten die USA nun konsequenter auf. Der US-Botschafter in Sarajevo forderte vor wenigen Tagen von der SFOR Taten, nicht mehr nur Worte. Der Bush-Administration passte es durchaus in die Wahlkampfstrategie, wenn sie Fotos von Karadžić oder Ratko Mladić, die Häftlingsnummer in den Händen, präsentieren könnte. Und auch den Europäern ist Karadžić nur noch eine schwere Last. Denn Ende des Jahres werden nach weiterem US-Truppenabbau vor allem sie auf dem Balkan Militär und Politik bestimmen. Ein freier Karadžić stört da nur.

Und in der Tat, die internationalen Ermittler sind aktiver geworden und hatten in den vorigen Wochen Erfolg. Drei engste Vertraute Karadžić’ wurden festgenommen. Die Schlinge um den Kriegsverbrecher wird enger.

Gestern hat die Internationale Bosnien-Verwaltung außerdem die Konten von zehn Personen sperren lassen, Karadžić unterstütt haben sollen. Diese Helfer agierten bandenmäßig, erklärte der internationale Bosnien-Verwalter Paddy Ashdown. Karadžić Flucht vor der Justiz werde durch Korruption, Geldwäsche und Erpressung finanziert. „Herr Karadžić führt eine Verbrecherbande und wir handeln entsprechend“, sagte Ashdown.

Unter den zehn Personen ist auch der frühere bosnisch-serbische Präsident Mirko Sarovic, der gegenwärtig stellvertretender Präsident der vonKaradžić gegründeten Serbisch-Demokratischen Partei ist. Er muss dieses Amt nun niederlegen.

Mit Zeljko Janković, genannt Luna, war den Fahndern in der ostbosnischen Stadt Bijeljina außerdem Ende Januar der ehemalige Chef der Polizeieinheit „Preventiva“ ins Netz gegangen. Er stand jahrelang im Dienste Karadžić’: als Bodyguard und als Geldbeschaffer. Selbstredend weiß Luna über die Verstecke Bescheid, kennt die Unterstützerkreise und Finanziers seines Chefs. Wenn er im US-Stützpunkt bei Tuzla, wo er in Haft sitzt, auspackt, dann müssen andere Mitwisser und Karadžić selbst um ihre Freiheit bangen. Dass er bald auspackt, ist angesichts der ausgefeilten Methoden der US-Verhörspezialisten nicht unwahrscheinlich.

Anfang Januar waren bereits Dušan Tesić und Bogdan Vasić verhaftet worden, beide gehörten mindestens bis Ende der 90er-Jahre ebenfalls der „Preventiva“ an. Die beiden sind enge Freunde und schon seit Jahren dabei, Heroin und andere Drogen zu verkaufen. Beide sollten, so drang bisher durch, die Profite aus dem Heroinhandel Karadžić übergeben. Die Wochenzeitung Slobodna Bosna will jedoch erfahren haben, dass die beiden nur einen Teil des Geldes, nämlich 200.000 Konvertible Mark (1 Euro sind 2 KM) von insgesamt zwei Millionen an Karadžić abgeliefert haben. Kein Wunder, so die Zeitung, dass der Alte tobte. Und das sei der Grund, so die Slobodna Bosna weiter, warum die beiden betrügerischen Ex-Getreuen „sich kooperativ verhalten“, wie es in der Geheimdienstsprache heißt.

Die Aussagen der beiden führten aber nicht nur auf Lunas Spur. Sie belasten auch serbische Politiker in Bosnien und Herzegowina. Allmählich offenbart sich das ganze Netzwerk, das zwischen kriminellen Elementen, Freischärlern und Polizisten, die die Schmutzarbeit leisteten, und den Politikern der Serbischen Demokratischen Partei des Radovan Karadžić bestand und bis heute noch besteht. Die Preventiva war zwar während des Krieges Karadžić direkt unterstellt, doch auch andere serbische Politiker wie der jetzt in Den Haag vor Gericht stehende ehemalige stellvertretende Parteichef, Momčilo Krajišnik, Karadžić’ rechte Hand, sowie der amtierende Parlamentspräsident Dragan Kalinić benutzten die Polizisten zu ihrem Schutz.

Mit der Verhaftung Janković’ und der anderen beiden kriminellen Expolizisten ist jetzt wahrscheinlich der Faden gefunden, an dem sich der gesamte Karadžić-Untergrund aufribbeln lässt. Nur knapp entkam zum Beispiel vor wenigen Tagen Ljuban Ecim den internationalen Fahndern. Der Ex-Geheimdienstchef von Banja Luka, der ebenfalls damit beauftragt ist, Geld für Karadžić zu sammeln, konnte in letzter Minute nach Serbien fliehen. Karadžić selbst soll laut Carla del Ponte Mitte Januar nur zwei Stunden vor den Häschern in Pale entkommen sein.