Das Kartell der kleinen Schnitte

Das zentrale Selbstverwaltungsgremium im Gesundheitsbereich, der „Bundesausschuss“, mauert. Die Gesundheitsministerin ist auf ihn angewiesen

Der Beschluss über Mindestmengen von Operationen „zeigt, dass es am allerwenigsten um den Patienten geht“

AUS BERLIN ULRIKE WINKELMANN

Das Besondere am Gesundheitswesen ist, dass irgendwie immer alle im selben Boot sitzen. Da fällt es oft schwer, Interessen zu sortieren.

Die Selbstverwaltung im Gesundheitswesen zum Beispiel geht zusammen segeln. Ein Schwung älterer Herren setzt sich jährlich in ein Boot, um an der „Aal-Regatta“ auf der Kieler Woche teilzunehmen. Dabei sind: der Chef der Großkrankenkasse AOK, Hans Jürgen Ahrens, der Chef der Deutschen Krankenhausgesellschaft, Jörg Robbers, der Vizechef der Krankenkasse DAK, Herbert Rebscher, und Rainer Hess, der bis vor wenigen Wochen Hauptgeschäftsführer der Kassenärztlichen Bundesvereinigung (KBV) war.

Jetzt ist Hess Chef des neuen „Bundesausschuss“, des mächtigsten Selbstverwaltungsgremiums aus Kassen, Ärzten und neuerdings auch – nicht stimmberechtigten – Patientenvertretern. Hess findet nicht im Geringsten was dabei, dass wichtige Männer Freizeit zusammen verbringen, die sonst um die 260 Milliarden Euro streiten, die jährlich im Gesundheitssystem zu verteilen sind. „Das sind zwei Ebenen“, sagt er. „Wenn man am Tisch gegeneinander verhandelt, kann man trotzdem zusammen segeln gehen.“

Die Frage ist bloß, wessen Interessen am Verhandlungstisch des Ausschusses präsent sind. „Selbstverwaltung“ klingt zwar immer gut, hat aber im Gesundheitswesen nichts mit Demokratie zu tun. Wutschnauben verursachte bei der SPD vor wenigen Tagen eine Entscheidung des Bundesausschusses zur Qualitätssicherung in Krankenhäusern.

Der Bundesausschuss hatte sich durchgerungen, ein drei Jahre altes Gesetz umzusetzen, wonach Mindestmengen für Operationen festzulegen sind. Krankenhäuser sollen nur noch Operationen machen dürfen, in denen es eine gewisse Routine gibt, denn: „Es besteht ein nachgewiesener Zusammenhang zwischen der Häufigkeit durchgeführter Operationen und der Qualität des Behandlungsergebnisses“, so erklärt das Gesetz vom April 2001. Mag sein, befanden die Kassen, die privaten Krankenversicherer, die Krankenhausgesellschaft, die Bundesärztekammer und der Deutsche Pflegerat und einigten sich auf Mindestmengen für: Nieren-, Leber- und Stammzelltransplantationen, Speiseröhren- und Bauchspeicheldrüsenentfernungen.

Das, sagt der Gesundheitspolitik-Berater Karl Lauterbach, „entspricht zwei Promille des Versorgungsspektrums und damit einem Begräbnis des Gesetzes“. Der Beschluss sei „eine Verhöhnung der Patienteninteressen“. Der SPD-Gesundheitsexperte im Bundestag, Klaus Kirschner, erklärt, der Beschluss „zeigt mal wieder, dass es in der Selbstverwaltung am allerwenigsten um die Patienten geht“. Die Patientenbeauftragte der Bundesregierung, Helga Kühn-Mengel (SPD), ergänzt: „Der Apparat überschlägt sich in der Qualitätsdebatte nicht gerade.“ Kühn-Mengel sagt: „Prostata, Brustkrebs, Bypass – diese Operationen werden wirklich oft gemacht, dafür brauchen wir Qualitätsstandards. Da hätte mehr bei rumkommen müssen.“ Die Selbstverwaltung „unterläuft unsere Gesetze“.

Diesen Eindruck durften auch eine Reihe von Gesundheitsministerinnen und -ministern schon haben – inklusive Ulla Schmidt (SPD). Die allerdings behauptet, zuständig für Krankenhäuser seien die Bundesländer. „Wir können nichts machen“, sagt ein Ministeriumssprecher. Die Zurückhaltung Schmidts könnte aber auch einen anderen Grund haben: Schmidt kann sich nicht noch mehr böses Blut bei der Umsetzung der Gesundheitsreform leisten. Sie braucht den Bundesausschuss für eine wichtige Entscheidung Mitte März. Dann wird der Ausschuss die Liste der nicht rezeptpflichtigen Medikamente bekannt geben, die noch von den Kassen bezahlt werden sollen. Je mehr populäre Pillen darauf landen, desto weniger öffentlichen Ärger wird es geben.

Das ist das Problem von Ulla Schmidt: Über ihrem Haupt entlädt sich die gesamte Empörung über Härten und Tücken der Gesundheitsreform. Mitte Januar behauptete Schmidt dann, die Selbstverwaltung sei an allem schuld. Im Spiegel sagte sie: „Den Ärztefunktionären und Kassen muss klar sein: Diese Gesundheitsreform ist ihre letzte Chance. Wenn es ihnen nicht gelingt, für bessere Qualität und mehr Wirtschaftlichkeit zu sorgen, verliert die Selbstverwaltung ihre Existenzberechtigung.“

Diese hohle Drohung hat die Kooperationsbereitschaft der Gemeinten nicht vergrößert. Doch der Bundesausschuss-Chef Hess gibt sich gelassen. Zur Umsetzung der Reform verweist er darauf, dass die Sparvorgaben von der Politik kämen. Zur Umsetzung der Mindestmengen-Regelung von 2001 sagt er, es handle sich „nicht um eine Verweigerung“, sondern um einen „behutsamen Einstieg“ in die Qualitätssicherung. Ausdrücklich warnt Hess die Ministerin: Es dürfe nicht der „Eindruck entstehen, dass die Selbstverwaltung dauerhaft gegängelt wird“.

Sonst, so steht zu vermuten, passiert eben gar nichts mehr. Aus diesem Dilemma kommt die Politik nicht heraus: Sie braucht minimales Wohlwollen der Selbstverwaltung im Gesundheitswesen, um Gesetze umzusetzen. Das funktioniert jedoch nur, wenn weder Kassen noch Ärzte ihre Pfründen gefährdet sehen. Qualitätsmaßnahmen bleiben deshalb als Erstes auf der Strecke: Ärzte und Krankenhäuser wollen sich nicht kontrollieren lassen, und Kassen fürchten die Investition – selbst wenn gesteigerte Qualität auf Dauer günstiger, weil effizienter wäre. Bockt der Bundesausschuss jedoch bei politischen Sparvorgaben, kann dies für Kranke von Vorteil sein.

Es ist in der Gemengelage oft nicht einfach zu erkennen, wer die Interessen der Patienten wirklich vertritt – und was die wirklichen Patienteninteressen sind. Beinharte Qualitätssicherung in Krankenhäusern zum Beispiel hätte zur Folge, dass manches Haus schließen müsste. Und mit der Schließung von Krankenhäusern holen sich Politiker Protest an den Hals: Die Deutschen laufen ungern weit zur nächsten Klinik.

Das Merkwürdige am System der Selbstverwaltung im Gesundheitswesen ist: Irgendwie sitzen alle immer im selben Boot.