Der Vollmund ist versiegt

Leverkusen ist nach dem 4:1 über Hertha BSC wieder Erstligakandidat und lässt staunen über Jürgen Kohler, Bayers Bankdrücker mit dreiteiliger Philosophie und wundersamen Motivationskünsten

aus Kohlerkusen BERND MÜLLENDER

Alles schien anders. Bayer Leverkusen trifft wieder üppig ins Tor. Auch die Freudenmusik nach den ersten drei Treffern ließ aufhorchen: Da donnerte die kölsche Hymne von Brings durchs Rund, in der als eine Art Westalgie die supergeile Zeit von früher besungen wird. Das vierte Tor dagegen wurde zukunftsgerichtet nachbeschallt: „Jetzt geht’s los …“ Als wären nach dem 4:1 gegen Hertha BSC neue supergeile Zeiten für den Abstiegskandidaten angebrochen. Noch auffälliger war die verbale Nichtexistenz von Reiner Calmund, dem Manager. Keine Statements, kein Kommentar, der Vollmund war versiegt – das ist, als wäre George Bush friedensfähig. War er überhaupt da? Nur einmal, sehr spät, kam er aus den Katakomben vor die Premiere-Kameras gerollt und gab als Kumpel Calli die Werbehure: Dienstag, liebe Fußballfreunde, müsse man Real gegen ManU gucken, live und exklusiv, euer Reiner Calmund. Kein Wort zu seiner Elf. Und Abgang, so schnell es der Leib zuließ.

Seine Rolle hat jetzt als Hilfs-Calli Jürgen Kohler (37) übernommen, der neue Sportdirektor. Beim Premierenauftritt hatte er statt auf der Tribüne unten auf der Bank gesessen, als Beigeordneter zum Trainer, was vorher als eine Art strategische und zukunftsweisende Entscheidung gehandelt wurde. Kohler begründete scherzig: „Ich bin eben auf dem Spielfeld groß geworden.“ Und dann ward er nicht müde, Thomas Hörster zu loben. „Der Trainer ist der Chef, daran ändert sich nichts.“ Und: „Das Kompliment geht an Hörster und die Mannschaft. Ihnen gebührt aller Verdienst.“ Sowieso: „Ich habe dazu wenig beigetragen.“

Es galt den Eindruck zu vermeiden, der gewesene Weltmeister sei gekommen als Oberhörster (wie der Kölner Stadt-Anzeiger so nett formulierte). Nein, es galt höchstens als Unterhörster aufzutreten, besser noch als sein eigener Unterkohler. Thomas Hörster, wegen seiner trocken-kauzigen und nicht boulevardtauglichen Art schon als Trainer auf Abruf gehandelt, stellte klar: „Ich mach meine Arbeit weiter, ich trainiere.“ Er freue sich über Jürgen Kohler: Der habe „Lockerheit reingebracht“.

Auch die Spieler sprachen mannschaftlich sehr geschlossen. Bernd Schneider: Kohler habe „Spaß reingebracht“. Hanno Balitsch: Er hat „Späßchen reingebracht“. Carsten Ramelow hält Kohler gar für „positiv verrückt“. Oliver Neuville berichtete noch, Kohler habe ihn „sehr motiviert“. Wie? „Das sind Interna.“ Und Torwart Jörg Butt, dessen frecher Elfmeter (flach und langsam in die Mitte) den Sieg einleitete: Kohler habe schlicht „Optimismus verbreitet“. Wie? „Er hat gesagt, dass wir nächstes Jahr in der ersten Liga spielen. Kleinigkeiten können eben Wunder bewirken.“

Kohler also als Wunderheiler der Siechentruppe? Beim Amtsantritt am Montag hatte er seine Diagnose gestellt: „Das ist eine Situation, wie wenn man zum Arzt kommt.“ Aber wundersam kompakt gespielt hatte Bayer wirklich; engagiert, offensiv, phasenweise selbstbewusst. Allerdings brauchten sie die freundliche Unterstützung der reichlich depperten Hauptstädter, die zu allen Treffern so groteske Vorarbeit lieferten, dass Keeper Gabor Kiraly nachher von „vier Eigentoren“ sprach. Besonders Marko Rehmer stockfehlerte sich stolpernd über den Rasen, bis ihn eine Schulterverletzung zur Halbzeit erlöste. Sein Trainer Huub Stevens gab nachher Hollands Keizer Frans I.: „Wir haben so viele Geschenke verteilt. Ich denke, ist denn schon Weihnachten?“

Einiges bei Bayer wirkte aber wirklich wie früher. Berbatow vergibt Torchancen und wird beim Auswechseln freundlich beklatscht. Ramelow verzichtet weitgehend auf Offensivaktionen, was dem Spiel gut tut. Neuville kann wieder stolperfrei rennen. Zivkovics Rückpässe kommen beim Torwart an, und Diego Placente, der Riese unter den Zwergen, formiert sich neu zum kleinsten Fels der Leverkusener Abwehrhistorie.

Jürgen Kohler ließ abschließend wissen, er habe „eine Philosophie“ aus drei Teilen. 1. „Ich glaube an das, was nicht ist, damit es werde.“ 2. „Man muss sich einer Herausforderung stellen, um sie zu bestehen.“ Und 3. „An schweren Dingen wächst man.“ Und tatsächlich ist etwas von bislang unbekannter Größe beim Eximmerzweiten passiert. „Die Mannschaft“, sagte Jürgen Kohler, der neue Ansporndirektor, süffisant wie geschichtsbewusst, „hat gezeigt, dass sie Endspiele gewinnen kann.“