Auch eine Hommage ans Klischee

Die Besonderheit von Samirs postmodernem Migrantenkino liegt darin, dass er sich des allzu moralischen Differenzierens, der Political Correctness enthält. Kino zwischen Experimentalfilm und Videoinstallation, Doku und Fernsehserie

von AMIN FARZANEFAR

Vier alte Herren, ehemalige Kommunisten, erinnern sich in „Forget Baghdad“ gemeinsam ihrer Geschichte: es ist die Geschichte der Juden Bagdads. Im Irak nach der Staatengründung Israels als „Zionisten“ angefeindet, wandern sie – wie 120.000 andere – ins Gelobte Land aus, um sich dort als Araber erneut rassistischen Anfeindungen und Ausgrenzungen ausgesetzt zu sehen. Während die vier Altlinken kraft ihrer Sprache ein vergessenes Geschichtskapitel des Mittleren Ostens heraufbeschwören, mischt sich der 48- jährige Regisseur Samir im Voice-over kommentierend in den Erzählfluss der vier Protagonisten und lässt eigene Erinnerungen aufsteigen – auch Samir ist Nachfahre irakischer Auswanderer.

Ein früherer Film gab hier genauer Auskunft: Wo „Forget Baghdad“ der Generation der Väter nachspürt, umkreiste dessen Zwilling, „Babylon 5“, 1993, Samirs Biografie: Die schweizerische Mutter reiste als Au-pair nach England, verliebte sich dort in einen Iraker und begleitete ihn nach Bagdad. Ein Anwerbeprogramm der prosperierenden Schweiz für zukünftige Führungskräfte führte das Paar Anfang der 60er zurück in die Alpen. Und während der kleine Samir in diesem Bergland anlangt, in dem Gerüchten zufolge Eis vom Himmel fällt, folgt im Irak selbst dem progressiven Klima nach dem Sturz des Königs eine blutige Konterrevolution.

In all ihrer Einzigartigkeit ist diese Geschichte doch keine besondere, und in „Babylon 5“ erweist sich die Schweiz als wahrer ethnischer Schmelztiegel: Italienische, spanische, jamaikanische und tunesische Eidgenossen kommen zu Wort – Armenier, die nie in ihrer Heimat waren, Juden, die ratlos sind angesichts einer eindeutigen kulturellen Verortung – und ein türkischstämmiger Eishockeystar, der weder ein türkische noch eine schweizerische Freundin haben will: „Die zwei Völker sind so verschieden.“ Wovon denn?

Vieles erscheint typisch – ein gewisser Hang der secundos“ zur Apkapselung etwa – anderes eher ungewohnt: die behauptete Affinität der Migrantenkinds zu elektronischen Medien, die sich in der HipHop-Performerin Debbie Dee manifestiert, oder ein scheiterndes Videointerview mit dem bräsigen Starsoziologen Richard Sennett über Hybridität.

Wie „Forget Baghdad“ erscheint „Babylon 5“ durch Rückbindung an die Biografie des Filmemachers als besonders persönlich, zum andern verweist der Film durch Einbettung in historische und politische Kontexte aufs Allgemeine. Ausschnitte aus alten Nachrichtensendungen und Dokumentarfilmen betreiben ausschnittsweise eine Rekonstruktion Schweizer Migrationsgeschichte: Von 6, 8 Millionen Eidgenossen sind 1,25 Millionen Zuwanderer. Nach dem fremdenfeindlichen Referendum des Rechtspopulisten Dr. Schwarzenbach 1970 wanderten 300.000 Gastarbeiter ab – die Stimmung vom Bagdad der Fünfzigerjahre erscheint nicht so weit weg.

Damit ist der Themenkanon vorgegeben, der Samirs Werk prägt: Beschäftigung mit Lebens-, Migrations- und Zeitgeschichte; Reflexion über Mehrsprachigkeit, kulturelle Identität und kulturelles Gedächtnis; Auflösung von und spielerischer Umgang mit ethnischen, religiösen und sonstigen Klischees.

Die Methode des Hinterfragens dieser Klischees – und ihrer medialen Vermittlung – findet sich beispielhaft in „Projecziuns romano“ (Romanische Projektionen, 1998). Da befragt Samir Kinozuschauer, die gerade Martin Scorseses opulentes Dalai-Lama-Biopic „Kundun“ bewältigt haben, zu ihrem Tibetbild. Die dabei aufscheinenden exotistischen Fantasien und esoterischen Wunschträume über ein fernes Bergland ohne Schokolade konfrontiert er dann mit dem real existierenden Tibet. Doch auch der gelb gewandetete Mönch, der uns nun Auskunft gibt, wird als typischer Repräsentant aufgezeigt und neben andere, weniger populäre Tibeter gestellt: alt gewordene Exilanten und Vertreter einer jungen Generation, die ihr kulturelles Erbe forttragen – oder auch nicht. Das Fremde ist immer vieles …

Was hier durchscheint, ist auch die Lust am Klischee: Die besondere Qualität von Samirs postmodernem Migrantenkino liegt darin, dass er sich des allzu moralischen Differenzierens, der Political Correctness enthält, die den Migrationsdebatten, den Cultural Studies und der Orientalismusforschung anhaftet: Wenn Samir harmlosere Rassismen und Klischees aufweist, ist er gleichzeitig bereit, mit ihrem Charme zu spielen. Er bewegt sich irgendwo zwischen Analyse, Engagement und Dichtung. Damit ist er filmisch auf kein Genre festgelegt und versucht sich in Experimentalfilm und Videoinstallation, Doku und Fernsehserie. Bereits sein Erstling, ein dubioser Detektivfilm, war geradezu eine Hommage an all die Sterotype, die die Populär- und Unterhaltungskultur von der abendländischen Peripherie zeichnet.

„Morlove – eine Ode für Heisenberg“ (1986) aus einer Zeit, wo es noch Negerküsse und Türkenwitze gab, nahm schon den Klamauk und die Respektlosigkeit von Migrantencomedys wie „Was gucks du“ und Shazia Mirza vorweg. Inhaltlich bewegte sich die bekiffte Story irgendwo zwischen „Casablanca“, „Indiana Jones“ und „Liebesgrüße aus Moskau“, dabei regiert das Vorurteil: Detektiv Morlove gerät an arabische Taxifahrer, orientalische Finsterlinge, und in die Klauen mafioser Russkis. Dazwischen diskutieren zwei Billardkugeln über Heisenberg und Einstein, über die Relativität von Ort, Zeit, Handlung und Kultur. Formal enthielt die Klamotte des damals 31-Jährigen schon alle Elemente, auf die er auch aktuell immer wieder zurückgreifen wird: das Zitieren und Sampeln von Versatzstücken der Massenkultur, das Einblenden, Überlagern, Collagieren von Bild-, Film- und Schriftelementen, darüber ein melancholisch bis ironischer Off-Kommentar.

Im Rückgriff auf Alexander Kluge versteht Samir Filme als „Emotionsmaschinen“, ist aber weniger Maschinist als Märchenerzähler. Anders als der Jurist und Filmemacher Kluge hat der gelernte Orientale und Typograf die analytische Trennschärfe zugunsten des Erzählerischen zurückgestellt. Und das Erzählerische gestaltet er zur Arabeske, zum Ornament aus: „Ich wurde geboren in einem Schurkenstaat …“, beginnt „Forget Baghdad“, und dann sehen wir einen Ausschnitt aus einem alten Märchenfilm. „Geschichte“ ist bei Samir im mehrfachen Wortsinn zu verstehen: das Gewebe, das er da flicht aus Vergangenem und Aktuellem, aus Historie und Fantasie, scheint sich aus jenem Meer der Geschichten zu speisen, das auch fliegende Teppiche und Diebe aus Bagdad hervorbrachte.

Nach „Forget Baghdad“ und „Babylon 5“ wäre eine dritte Doku denkbar, in der der Irak nicht mehr nur von den Rändern her, aus der Perspektive des Migranten oder Exilanten, gezeigt wird. Doch nachdem Samir – der Schweizer, der seinen irakischen Pass nicht loswird – eindeutig Position bezogen hatte gegen den Krieg wie gegen Saddam, nachdem er wegen „Forget Baghdad“ letzthin auch den „zionistischen Erzfeind“ Israel besuchte, schien ihm eine Reise in den Irak wenig ratsam. Im Moment schon gar nicht. Gewisse Grenzen, manche Barrieren bleiben.