Die japanische Stunde

Winterspaziergänge (Teil 3): Wenn kein Ziel, sondern Sonne, das Geräusch der eigenen Schritte und der Atem den Weg bestimmen, gerät die Zeit in ein ruhiges Fließen

Es war irgendwie schade, dass wir nicht mehr so oft spazieren gingen. Vielleicht kam es daher, dass wir plötzlich beschlossen hatten, unsere Wochenenden nüchterner zu verbringen. So waren wir nicht mehr so oft in dieser leicht verpeilten Katerstimmung, in der Spaziergänge als Heil- und Beruhigungsmittel so gut funktionieren und unabdingbar sind, um sich wieder zu erden, gerade im Winter, wenn die Tage kurz sind.

Man steht auf, isst was, trinkt Kaffee und schon ist es wieder dunkel, und auf XXP spricht der Japan-Experte Manfred von Osten über den fließenden japanischen Zeitbegriff: Vor der Einführung des gregorianischen Kalenders im Jahre 1873 hat es in Japan immer jeweils sechs Tages- und sechs Nachtstunden gegeben. Der Tag war so lang, wie es hell war, dass heißt im Norden gab es eine andere Zeit als im Süden, im Winter waren die Tagesstunden kürzer usw.

Dieses Dehnen und Zusammenziehen der Stunden, das prägte auch die Spaziergänge der letzten Wochen. Wir waren doch noch gegangen, aber es schien im Rückblick weniger, vielleicht, weil so viel anderes dazwischen ja auch noch geschehen war. Manchmal hinterlässt ein Spaziergang nicht so viele Erinnerungsspuren und ist eher wie ein 0:0 beim Fußball, ein ruhiges Fließen sozusagen, wenn man sein Ziel nicht vorher bestimmt, sondern sich zunächst vor allem bemüht, auf der Sonnenseite der Straße zu gehen; von der Gneisenaustraße zum Mehringdamm, dann den Columbiadamm am Flughafen Tempelhof entlang; schweigend und nur auf das Geräusch der eigenen Schritte hörend und den Atem. Vor dem Eingang zum Garnisonsfriedhof zögert man kurz, weil man nicht weiß, ob es noch einen anderen Ausgang gibt und der Regel ja folgen will, die besagt, dass es unbedingt zu vermeiden ist, einen Weg zweimal zu gehen. Hier liegen viele Muslime, aber auch Soldaten; da und dort gibt es zwischen den Bäumen schöne Landschaftsbilder.

Der Imbiss zwischen Friedhof und Columbiabad lebt vielleicht von Beerdigungsgästen und hat eine eigene Hausnummer. Weil man plötzlich so schön im Trott ist, entschließt man sich, ganz den Flughafen zu umrunden, biegt in einen Fußweg ein, kommt in die Oderstraße, immer am Zaun des Flughafens entlang, und schaut kleinen und großen Maschinen zu, wie sie sich in Position manövrieren, Anlauf nehmen und starten. Zwei türkische junge Männer standen auch da und rauchten Gras. Mir fiel ein Dokumentarfilm ein, den ich vor zwei Jahren gesehen hatte, in dem junge Türken genau wie diese beiden, genau an dieser Stelle jeden Nachmittag kiffend den Flugzeugen hinterhergeschaut hatten.

Wir trieben an der Tempelhofer Seite des Flughafens vorbei, passierten die Keksfabrik Bahlsen und die Bundesmonopolverwaltung für Branntwein und landeten im Café Prinz Eisenherz am Mehringdamm, das im Winter sehr gemütlich ist. Und auch supersympathisch: Die vergessenen Zigaretten bekam ich zwei Stunden später mit einem schönen Lächeln wieder zurück.

DETLEF KUHLBRODT