bernhard pötter über Kinder
: Luxus in Zeiten des Krieges

Wir leiden unter den Bildern von Kindern in Not. Und flüchten auf unsere Insel der Seligen

Hinterher war Jonas dann wieder sehr gefasst. „Ich habe nur ein bisschen geweint“, sagte er stolz, als wir bei Karstadt auf der Rolltreppe durch die Luxusabteilung Richtung Spielwaren schwebten. Ich spendierte ihm einen Lego-Polizeihubschrauber für Tapferkeit vor dem Arzt. Schließlich hatte er gemeinsam mit seiner Schwester Tina gerade die Impfung gegen Masern, Mumps und Röteln bekommen. Zu Hause gab es zur Belohnung noch ein Eis.

Als die Kinder geimpft, bestochen und eingezuckert in ihren Betten lagen, sanken wir zufrieden aufs Sofa. Im Fernsehen ein Krankenhaus im Irak: Kinder mit Granatsplittern in den Bäuchen. Kaum Medikamente, um bei Operationen Narkosen zu verabreichen. Eine halbe Million tote Kinder durch die UN-Sanktionen, weil keine Medikamente für Kinder ins Land kommen. Und wir hatten uns wegen des erwarteten Geschreis vor der Impfung unserer Kinder gefürchtet. So sieht Luxus aus.

Wir leben nun mal auf einer Insel der Seligen. Der schiere Zufall, hier geboren zu sein, verleiht uns ungleich höhere Lebenschancen als 90 Prozent der Weltbevölkerung. Milliarden von Menschen würden sofort mit uns tauschen. Auch wenn sie sich dafür unsere deutsche Gemütlichkeit, die berüchtigten Sekundärtugenden und die RTL-Superstars einhandeln würden. Der Krieg erinnert uns daran, wie gut es uns geht. Wenigstens dazu taugt er.

„Guck mal, Papa, warum hat der Mann einen Sack überm Kopf?“ Jonas zeigt mir die Zeitung mit dem Bild eines gefangenen Irakers. Der sitzt hinter Stacheldraht, hat den Sack auf – und seinen vierjährigen Sohn im Arm. „Weil sie nicht wollen, dass er sieht, wohin sie ihn bringen“, sage ich. Mit einem dicken Kloß im Hals. Nicht so sehr, weil ich um das Schicksal des Mannes fürchte. Im Irak kann man es momentan schlimmer treffen, als Gefangener der alliierten Truppen zu sein. Sondern weil das Bild ein Kind in Not zeigt. Und weil ich das kaum noch mehr ertrage, seit ich eigene Kinder habe.

Natürlich verändern Kinder die Weltsicht. Aber so hatte ich das nicht erwartet. Als Jonas ein halbes Jahr alt war, sah ich im Holocaust Museum von Washington die Bilder von Kindern im Warschauer Ghetto. Ich hatte diese Fotos schon mehrfach gesehen, ohne dass sie mich mehr als abstrakt berührt hatten. Aber an diesem Tag fühlte ich mich zum Heulen.

Im Kino stehe ich „Der englische Patient“ und „Titanic“ hintereinander durch, ohne auch nur einmal zum Taschentuch zu greifen. Aber die realen Bilder von dem Vater und dem Sohn, die ins Kreuzfeuer zwischen Palästinensern und iraelischer Armee geraten waren und dabei erschossen wurden, haben mich einige Tage lang verfolgt. An die Filmaufnahmen vom Giftgaseinsatz der irakischen Armee gegen die Kurden in Halabdscha vor 15 Jahren habe ich nur eine undeutliche Erinnerung. Nur an die Babys im Arm ihrer Mütter erinnere ich mich genau.

Was bleibt von der Giftkatastrophe von Bhopal? Das Foto eines toten Kindes, das ohne Sarg verscharrt wird und mit offenen Augen den Betrachter anstarrt. Wie erinnern wir uns an Vietnam? Über das Bild der nackten Mädchen, die weinend und schreiend an den Soldaten vorbei aus ihrem Dorf fliehen, das angegriffen wird.

Eltern sind besonders verwundbar, wenn es um den Nachwuchs geht. Deswegen gibt es so viel Werbung mit Kindern. Wer etwas für sein soziales Image tun will, investiert in Kinder. Wer als Diktator erfolgreich sein will, der küsst Kinder. Und wer sich als Befreier mit hilfsbereiten Chirurgen nach den „chirurgischen Eingriffen“ der Bomberflotten darstellen will, der verbreitet Fotos wie die von amerikanischen oder britischen Soldaten, die Flüchtlingskinder tragen oder irakische Babys medizinisch versorgen.

Warum leiden wir so an den Bilder von Kindern in Not? Weil sie noch nicht gelernt haben, ihren Schmerz zu verstecken und cool zu sein. Weil sich der Zuschauer nicht wie bei den Erwachsenen einreden kann, dass sie irgendwie selbst schuld sein könnten an ihrem Unglück. Vor allem aber, weil diese Bilder unsere Ängste spiegeln: So könnte es deinen Kindern gehen, wenn du sie nicht beschützt.

„Das stimmt schon“, sagt Anna, als wir wieder vor dem Fernseher sitzen, BBC gucken und ich ihr meine Theorie darlege. „Aber die Angst davor, was diese Bilder mit uns machen, klingt wieder sehr nach einer Sorge, die die wirklichen Opfer gern hätten.“

Zwischen uns und dem Elend ist immerhin noch die Mattscheibe. So sieht wahrer Luxus aus.

Fragen zu Kindern? kolumne@taz.de