Militär kann keine Hilfe sein

Humanitäre Operationen lassen sich nicht vom militärischen Verlauf eines Krieges trennen. Die einzige Organisation, die im Irak jetzt helfen kann, ist das Rote Kreuz

Der Bau von Latrinen ist oft dringlicher als die Verteilung von Nahrungsmittelnan Kleinkinder

Wenn es darum geht, menschliches Leid zu lindern, dann muss jeder politische Streit schweigen: Diese Haltung herrscht in der öffentlichen Diskussion selbst dann vor, wenn es keine dramatischen Fernsehbilder von hungernden Kleinkindern, endlos lang erscheinenden Flüchtlingstrecks, zerstörten Wohnvierteln und hoffnungslos überfüllten Krankenhäusern gibt. Legen darüber hinaus Kampfszenen wie jetzt aus Bagdad den Eindruck nahe, der Ausgang eines Krieges sei unzweifelhaft und stehe vielleicht sogar unmittelbar bevor, dann wächst der Wunsch einer gutwilligen Mehrheit der deutschen Bevölkerung nach Schluss der Debatte und schnellstmöglicher humanitärer Hilfe – egal von wem. Dieser Wunsch zeugt von einer humanen Grundhaltung und kann für viele Notleidende fatale Folgen haben.

Hilfsoperationen lassen sich von der politischen Entwicklung und dem militärischen Verlauf eines Krieges nicht trennen. Dafür gibt es mehrere Gründe. Der augenfälligste besteht darin, dass jede Seite versucht, die Verteilung von Gütern an Bedürftige propagandistisch für sich zu nutzen. Nun könnte man versucht sein zu sagen, das sei ziemlich gleichgültig, so lange irgendwelche Hilfe überhaupt die Notleidenden erreiche. Erst einmal Leben retten – um die Folgen von Propaganda kann man sich später kümmern. Leider liegen die Dinge so einfach nicht.

Zum einen wissen inzwischen alle Kriegsparteien – und auch alle Hilfsorganisationen! –, welche Art der Hilfe besonders publikumswirksam ist. Deshalb werden besonders gerne Nahrungsmittel an Kleinkinder verteilt, auch wenn der Bau von Latrinen als Maßnahme der Seuchenprävention dringlicher wäre. Finanzmittel stehen niemals in unbegrenzter Höhe zur Verfügung. Ist zu viel Geld für unsinnige Maßnahmen ausgegeben worden, dann fehlt es an anderer Stelle.

Der Einsatz von Hilfe als propagandistischer Waffe wirft aber ein noch erheblich schwerwiegenderes Problem auf: Er lässt Medikamente, Nahrung und sogar Wasser zu kriegswichtigem Material werden. Wenn eine Partei zu dem Ergebnis kommt, humanitäre Hilfe nutze ausschließlich ihren Feinden, dann häufen sich regelmäßig Sabotage, Überfälle auf Konvois und sogar Morde an ausländischen Helfern. Die übliche Reaktion darauf: der militärische Begleitschutz wird verstärkt – und damit auch die Wahrnehmung internationaler Organisationen als Kriegspartei. Ist es erst einmal so weit, dann hat eine Abwärtsspirale begonnen, die kaum noch zu bremsen ist. Es ist daher den Notleidenden nicht damit gedient, wenn Entscheidungsträger die politischen Stimmungen einfach außer Acht lassen, die Hilfsoperationen erzeugen.

Zusätzlich kompliziert wird die Lage, sobald Militärs unmittelbar an der Versorgung der Zivilbevölkerung beteiligt oder sogar federführend dafür verantwortlich sind. Soldaten sind für diesen Job ganz einfach nicht ausgebildet, der erheblich mehr Erfahrung erfordert als gemeinhin angenommen wird. Deshalb treffen sie häufig folgenschwere Fehlentscheidungen. Ein Beispiel von vielen: Im Kosovokrieg sind von Nato-Soldaten gut ausgestattete Flüchtlingslager in Grenznähe gebaut worden, deren Errichtung bei professionellen Helfern keineswegs Begeisterung auslöste. Gelegentlich ist es nämlich zum Schutz von Zivilisten notwendig, diese nicht allzu gut zu versorgen.

Ein Lager in Grenznähe erhöht die Gefahr militärischer Infiltrationen aus dem Kriegsgebiet. Deshalb sollte es niemals mehr als ein Provisorium sein – andernfalls wehren sich Insassen aus Angst vor schlechteren Bedingungen andernorts gegen ihre Umsiedlung in ein weiter entferntes Lager. Was ja denn auch prompt geschah. Haben Militärs erst einmal das Kommando übernommen, dann sind zivile Helfer allenfalls noch als Berater gefragt, deren Meinung ganz unverbindlich ist. Ähnlich sinnvoll wäre es, einem Unfallarzt das Oberkommando über eine Panzerschlacht zu übertragen. So etwas kann gut gehen oder auch nicht. Im Regelfall dürfte es schief gehen.

Im Irak ist die Verteilung von Hilfsgütern ein Thema, das besonders viel Zündstoff enthält. Die Mittel des Programms „food for oil“ stammen nämlich nicht aus Spenden, sondern aus dem Verkauf landeseigener Rohstoffe. Was bedeutet, dass es in diesem Zusammenhang nicht einmal das deeskalierende Gefühl der Dankbarkeit ausländischen Geldgebern gegenüber gibt. Die Hilfe wird vielmehr – zu Recht – als etwas betrachtet, was der Bevölkerung zusteht. Das führt zu einer unmittelbaren Verknüpfung von humanitären Maßnahmen mit der Frage nach einer irakischen Nachkriegsordnung.

Im Krieg versucht jede Seite, die Verteilung von Gütern an Bedürftige propagandistisch für sich zu nutzen

Es ist vor diesem Hintergrund eine ebenso clevere wie perfide Strategie, der UNO die Verfügungsgewalt über das Programm „food for oil“ zu übertragen: Die Vereinten Nationen haben den Krieg zwar nicht gebilligt, werden aber so in die Mitverantwortung hineingepresst. Mit allen daraus möglicherweise erwachsenden Folgen. Wie zynisch die kriegführenden USA an diese Frage herangehen, zeigt sich daran, dass die Militärs ganz offen die Möglichkeit einer Belagerung von Bagdad erörtern. Keine andere Strategie zieht für eine Zivilbevölkerung vergleichbar grauenvolle Folgen nach sich. Da könnten die Vereinten Nationen noch so lange Medizin verteilen – die Zahl der Opfer würde unweigerlich dramatisch steigen. Wer für die Dauer des Krieges eine UN-Beteiligung an Hilfsmaßnahmen ablehnt, tritt nicht automatisch dafür ein, Zivilisten hilflos sterben zu lassen. Die Sicherheitsregeln der UNO haben einen Abzug aller ausländischen Mitarbeiter vor Kriegsbeginn erzwungen. Andere konnten und sind geblieben: Delegierte des Internationalen Roten Kreuzes. Diese Organisation lehnt seit ihrer Gründung konsequent jeden militärischen Geleitschutz ab und nimmt dafür auch Tote in den eigenen Reihen in Kauf. Sie genießt einen völkerrechtlich gesicherten Status, befindet sich somit auch gegenüber allen nichtstaatlichen Hilfsorganisationen im Vorteil. Und sie äußert sich prinzipiell nicht zu politischen Fragen. Das ist gelegentlich schwer erträglich – wie etwa im ruandischen Völkermord. Aber es hat bewirkt, dass das Rote Kreuz stets von allen Seiten als wirklich neutraler Mittler betrachtet wird.

Der Organisation ist es kürzlich gelungen, das Überqueren der Frontlinie für irakische Ingenieure auszuhandeln, sodass diese die Wasser-Pumpstation von Basra reparieren konnten. Niemand sonst hätte das vermocht. Entgegen einer weit verbeiteten Ansicht ist das Internationale Rote Kreuz auch zu großen Operationen fähig: Die Hungersnot in Somalia ist von dieser Organisation und nicht von internationalen Militärs besiegt worden. Wem wirklich daran liegt, der irakischen Zivilbevölkerung zu helfen, ohne zugleich den Krieg zu unterstützen, der sollte jetzt für eine Stärkung und vor allem für eine entsprechende Alimentierung des Internationalen Roten Kreuzes eintreten. Es dürfte interessant sein zu beobachten, wer eine solche Forderung ablehnt. Und mit welcher Begründung. BETTINA GAUS