Nach dem Schnee

Nur aus dem Bewusstsein des Alten kann Neues entstehen: Branford Marsalis spielte im Quasimodo

Schneeflocken wirbeln auf der Terrasse vor dem Quasimodo-Café, unten stehen die Instrumente schon bereit, angereist aus Paris. Die Musiker sind noch nicht da. Die letzten Abende im New Morning sei es übervoll gewesen, fast drei Stunden hätten sie gespielt. Dann war es schwierig, wieder wegzukommen, mit dem Tourbus durch die engen Gassen. Branford sei von Paris nach London gefahren, um noch einmal einen Freund zu sehen, der im Sterben liegt. Ein Tourmitglied aus seiner Zeit bei Sting. Bis zum Konzert sei er sicher zurück. Sicher? Der Tourmanager grinst. Nun, es ist Branford Marsalis!

Abends steht er auf der Bühne, albert mit seinen Musikern herum, dem Publikum gegenüber bleibt er reserviert. Keine Ansagen, erst bei der Zugabe murmelt er kurz angebunden, das dieses Stück jetzt jemandem gewidmet sei, ein Stück von seinem neuen Album, das demnächst erscheint. Er nimmt sein Sopransaxofon und spielt eine Ballade, schmerzhaft schön und traurig.

Fast zwei Stunden geht das Konzert, ohne Pause. Ein intensives Ineinanderfließen der Stücke, aus denen sich die einzelnen Soli herauslösen wie amorphe Skulpturen. Die komplexen, choralen Improvisationen binden die unablässigen Läufe des Tenorsaxofons, die auf die hart und perkussiv gespielten Klavierlinien von Joey Calderazzo treffen. Es ist ein schnelles, drängendes Spielen. Bis die rhythmische Spannung so dicht wird, dass Bassist Eric Revis mit geschlossenen Augen zu schreien beginnt. Nachdem die letzten Berlin-Konzerte des gerade 42-jährigen ehemaligen Jazzstars (Sting, Tonight-Show, Ken Burns, Spike Lee, Grammy) seltsam uninspierierten Mainstream vermittelten, wirkt das Branford Marsalis Quartett jetzt wieder als spielerische Einheit. Nach dem Tod des Pianisten Kenny Kirkland hat Joey Calderazzo zu lange gebraucht, um nicht mehr den ewigen Ersatzmann zu geben.

Die Materialgebundenheit an die aus heutiger Sicht klassische Moderne des Jazz, mit etwa Sonny Rollins’ „Freedom Suite“ und John Coltranes „A Love Supreme“, bildet die Basis, auf der sich das Quartett entfaltet. Mit Branford selbst als in die Geschichte des Jazz „embeded artist“. Nur aus dem Bewusstsein des Alten kann Neues entstehen, so seine Meinung. Nachdem Sony sich mangels Plattenverkäufen nach Wynton Marsalis nun auch von Branford getrennt hat, geht er mit der Gründung seines eigenen Labels „Marsalis Music“ und seiner Reihe „Marsalis Jams“ diesen Weg erst mal weiter. MAXI SICKERT