„Alle Bewerber haben schon gewonnen“

Deutschland trainiert für Olympia (Teil 5): Hamburgs Olympia-Professor Sven Güldenpfennig über den Kern der olympischen Idee, die Kommerzialisierung der Spiele, ihre begrenzte Friedensmission – und warum Deutschland gut beraten ist, Olympia 2012 ausrichten zu wollen

Interview FRANK KETTERER

taz: Herr Dr. Güldenpfennig, wie wird man Olympia-Professor?

Prof. Sven Güldenpfennig: Indem man sich zum einen seit Jahren wissenschaftlich mit Grundsatzfragen der olympischen Bewegung beschäftigt, zum anderen, indem es eine Bewerberstadt für die Olympischen Spiele gibt, die der Auffassung ist, dass es ihr gut anstünde, sich wissenschaftlichen Begleitschutz ins Boot zu holen, so wie Hamburg das getan hat.

Und jetzt müssen Sie tagein, tagaus über die fünf Ringe nachdenken. Was haben Sie denn schon so erforscht?

Nach meiner These, auch wenn diese noch nicht so weit verbreitet ist, sind die Olympischen Spiele ein großes Kulturprojekt, das vor einer Vielzahl von Problemen steht. Deshalb geht es primär darum, den Kern, der Olympische Spiele ausmacht, genauer zu bestimmen. Und es geht darum, die gesamten Umfelder dieser Kulturidee – Politik, Ökonomie, Medien, Pädagogik sowie Rechts- und Ethikfragen – in ihrem Olympiabezug zu analysieren, zu diagnostizieren, deren aktuelle Entwicklungen zu beschreiben und an den Maßgaben der olympischen Idee zu prüfen und wenn nötig zu kritisieren.

Was ist der Kern der olympischen Idee?

Die Selbsterfahrung, die in jedem sportlichen Tun für die Beteiligten steckt: sich selbst herauszufordern und durch einen Gegner herausfordern zu lassen. An die Grenzen zu gehen, aber nur an die Grenzen dessen, was menschenmöglich ist. Grenzüberschreitung also zugleich als Hybris zurückzuweisen und vor diesen Grenzen auch mit Respekt Halt zu machen.

Was heißt das konkret?

Man muss sich mit Grenzen, die vorgegeben sind, bescheiden, sie aber weitestgehend ausreizen. Darin liegt der Sinn des Sports. Ein weiterer wichtiger Punkt ist, dass all das in Form eines sportlichen Geschehens geschieht, das durch den Wettbewerb in Gang gesetzt wird. Das ist genau das, was das olympische Geschehen ausmacht: großer Sport durch Wettbewerb beim gemeinsamen Ausloten der erstaunlich weiten Grenzen dessen, was menschenmöglich und zugleich noch menschlich ist.

Das ist wirklich schon alles?

Das ist der Kern. Und der bereits setzt ein überaus anspruchsvolles Geschehen in Gang. Hinzu kommt natürlich die universalistische Idee, die Welt bei einem solchen Ereignis wie Olympia zu vereinigen, zusammenzuführen. Unabhängig von allem Streit und allem Konflikt, der in der außersportlichen Welt vorliegt. Ferner alle weltweit betriebenen Sportarten bei diesem olympischen Festereignis an einem Ort zur gleichen Zeit zu versammeln.

Eine Ihrer Vorlesungen an der Universität Hamburg trägt den Titel „Olympische Idee zwischen Anspruch und Wirklichkeit“. Den Anspruch haben Sie bereits beschrieben. Wie sieht die Wirklichkeit aus?

Sehr gemischt. Es gibt natürlich eine Vielzahl von Entwicklungen, die mit der olympischen Idee nicht mehr im Einklang stehen, die man als Fehlentwicklung bezeichnen muss. Im sportlichen Kern ist das vor allem die Dopingproblematik, aber auch bei den Umfeldbeziehungen, zum Beispiel was Abhängigkeiten von Politik und Ökonomie betrifft, gibt es eine Vielzahl von Fehlentwicklungen.

Eine davon ist ganz bestimmt die immer stärker werdende Kommerzialisierung der Spiele.

Das stimmt. Aber man sollte auch hier die Maßstäbe zurechtrücken: In allen gesellschaftlichen Bereichen haben wir es mit hochgradigen Kommerzialisierungsprozessen zu tun, kein gesellschaftliches Feld bleibt davon heute verschont, auch der Sport nicht. Deshalb bin ich der Auffassung: Dort, wo Marktgängigkeit mit Sportsinn zu vereinbaren ist, gibt es im Prinzip nichts einzuwenden. Die Kritik muss dort einsetzen, wo mit dem Eingreifen des großen Geldes innere Entwicklungen im Sport gegen den Sportsinn gekehrt werden.

Bestimmt können Sie ein Beispiel nennen?

Das K.o.-System beim Skispringen. Das ist eine auf Einschaltquote schielende Scheindramatisierung, die ich für sportlich falsch halte. Biathlon oder Skilanglauf hingegen sind durch die Forderungen des Fernsehens auf Regeländerung und neue Wettbewerbsformen ungleich spannender geworden. Natürlich standen auch hier ökonomische Interessen im Vordergrund, aber sie haben sich nicht negativ auf den Sport ausgewirkt. Ganz im Gegenteil.

Olympia hatte in seiner ursprünglichen Idee immer auch mit Frieden zu tun. Macht es da Sinn, sich in Zeiten, in denen Bomben auf Bagdad fallen, sich den Kopf darüber zu zerbrechen, in welcher deutschen Stadt die Spiele 2012 stattfinden könnten?

Das ist doch gerade die – zugegeben: bescheidene! – eigentliche Friedensleistung, die der Sport erbringen kann: Mit allen Möglichkeiten, die uns zu Verfügung stehen, wenigstens das Kulturereignis Sport zu retten und unsere Politik so einzurichten, dass sie Sicherungen aufbaut, damit das auch wirklich gelingen kann. Dies sind die Aufgaben, vor denen die olympische Bewegung steht. Der ganz großen Erwartung, Sport solle ein Friedensmissionar sein, stehe ich hingegen überaus skeptisch gegenüber. Friedensfragen werden im Wesentlichen im politischen Raum entschieden, dafür ist eine Kulturbewegung wie der Sport zu schwach. Beim Thema Olympia sollte man die Friedensthematik deshalb nicht weiter an die erste Stelle rücken, da die olympische Bewegung hier leicht überfordert werden kann.

Dann ist es im olympischen Sinne, wenn das IOC sich bisher noch nicht eindeutig gegen den Krieg im Irak positioniert hat?

Die olympische Bewegung muss nicht zu jedem politischen Konflikt, auch nicht zu den großen, unbedingt eine eigene Stellungnahme erarbeiten. Gerade weil sie sich damit in das ganze Konfliktszenario und die politische Parteinahme hineinbegeben würde. Als eine Weltbewegung, die einen Kulturauftrag hat, muss sie sich der Grenzen ihrer Eingriffsmöglichkeiten bewusst sein und ihre Arbeit darauf konzentrieren, die Sicherung des Ereignisses selbst zu gewährleisten. Damit hat sie bereits mehr als genug zu tun! Der Irakkrieg ist politisch gesehen umstritten; für mich persönlich ist er nicht gerechtfertigt. Aber die olympische Bewegung wäre überfordert, die Frage zu beantworten, ob dieser Krieg nun rechtens ist oder nicht. Deshalb ist das IOC klug beraten, keine eindeutige Stellungnahme abzugeben.

Herr Dr. Güldenpfennig, das NOK für Deutschland wählt am Samstag die deutsche Bewerberstadt unter dem Motto „Deutschland braucht Olympia“. Ist dem wirklich so?

Das sind so Werbesprüche, mit denen man als Wissenschaftler seine Probleme hat. Selbstverständlich braucht Deutschland Olympia nicht, aber es gibt dennoch gute Gründe, warum sich Deutschland bewerben sollte.

Welche?

Die olympische Bewegung hat so viel kulturelle Eigenbedeutung, dass im Grunde jedes Land aufgefordert ist, Mitverantwortung zu übernehmen und sich einzubringen. Deshalb habe ich Hamburg auch empfohlen, das Prinzip, sich in den Dienst der olympischen Bewegung zu stellen, in seiner Bewerbung ganz nach oben zu stellen. Die olympische Bewegung lebt davon: Sie sieht zwar so stark und reich aus, ist aber wie alle Kulturbewegungen letztlich schwach und darauf angewiesen, eine starke Trägerschaft zu aktivieren. Da ist Deutschland gut beraten, sich mal wieder deutlich zu Wort zu melden.

Welche deutsche Stadt wäre denn aus streng wissenschaftlicher Sicht am besten geeignet?

Das ist keine Frage, die nach wissenschaftlichen Kriterien beurteilt werden kann. Aber doch so viel: Die fünf deutschen Bewerbungen, die jetzt vorliegen, sind durchweg gut begründet. Sie sind interessant, reichhaltig, und es steckt eine ganze Menge drin. Da könnte jede antreten. Das sage ich auch deshalb, weil ich davon überzeugt bin, dass allein dieser Wettbewerb, der stattgefunden hat, dem Sport insgesamt und auch den beteiligten Städten jetzt schon sehr viel gebracht hat. Hamburg hat schon gewonnen, unabhängig davon, ob es am Samstag den Zuschlag erhält. Alle Bewerber haben schon gewonnen. Jetzt geht es darum, wem das NOK die größten internationalen Chancen einräumt.