So langweilig wie Kafka

Wilhelm Genazino liest heute im Literturhaus aus seinem neuen Buch „Eine Frau, eine Wohnung, ein Roman“

Auch wenn die Welt sich immer blöder zu uns verhält, Naturkatastrophen warnend ihre Zeigefinger heben, Präsidenten, die nicht nachdenken, ungewollte Kriege beginnen und im April Schnee fällt, so arbeiten doch alle an der Erfindung des Gefühls, zur Welt zu gehören. Und der in Heidelberg lebende Autor Wilhelm Genazino beschreibt dieses Gefühl ein ums andere Mal. Heute liest er im Literaturhaus aus seinem neuen Buch Eine Frau, eine Wohnung, ein Roman.

In dem dünnen Band wird die Geschichte eines jungen Mannes erzählt, der vom Gymnasium geflogen ist und nun mit Hilfe seiner Mutter eine Ausbildungsstelle sucht. Er findet schließlich eine als Lehrling in einer Speditionsfirma und erfährt noch am selben Tag, dass ein paar kleine Zeitschriften seine literarischen Versuche abdrucken möchten. Fortan führt er ein Doppelleben als Lehrling und freier Reporter für ein Lokalblatt.

So weit, so gut, aber Genazino wäre kein wunderbarer Autor, wenn seine Figuren nicht schlaue Angestellte wären, die im Verborgenen, still und heimlich, ihre großen Träume leben. Diesmal ist sein Protagonist besessen von Literatur. Er möchte Schriftsteller werden und prägt sich die Biographien seiner Vorbilder genau ein. „Ich ging mit Gudrun in den Hausflur und küsste sie mit einer Erregung, von der wir glaubten, sie sei ein Zeichen unserer Liebe und unserer Zukunft. In Wahrheit ahnte ich, dass ich durch Gudrun hindurchküsste und im Hintergrund Franz Kafka dafür dankte, weil er mich wieder so lebendig gemacht hatte.“

Genazino ist ein zurückhaltender und genauer Beobachter. Ganz beiläufig bemerkt er, dass Menschen von hinten trauriger aussehen, und auch er selbst ist ein trauriger Mensch, voll leichtem Humor, jemand, der an der „englischen Krankheit“ leidet, an der Melancholie. Die Erzähler seiner Geschichten leiden gleichzeitig an einer satirischen Desillusion wie an spekulativer Neugier. Genazinos Angestellte sind kritischen Geistes mit einem Drang zur Erkenntnis. Die Angebetete des jungen Mannes fragt sich, warum Menschen, „also die unklarsten Lebewesen, die überhaupt existieren, etwas so Klares wie Texte zustande bringen“. Den Protagonisten seines letzten Romans beeindruckt das Wort „Gestrüpp“. Es ist vielleicht das Wort für die Gesamtmerkwürdigkeit allen Lebens.

Erst 2001 entdeckte das Literarische Quartett den Autor mit dem italienischen Nachnamen. Die Alten dachten, dass er Angestellten-Literatur schreibe, das sei ja das Langweiligste. Stimmt genau, wie Kafka. Nikola Duric

heute, 20 Uhr, LiteraturhausWilhelm Genazino, Eine Frau, eine Wohnung, ein Roman, Hanser 2003, 160 S. 15,90 Euro