„Super Sexy Bingo“ für alle

Im Kreuzberger SO 36 wird biederes Bingo mit trashigem Glamour und wohltätigem Zweck verbunden. Kitty Carell und Mary de Mol lassen niemand ungeschoren von der Bühne runter

von LUCIA JAY

Michaela tritt von einem Fuß auf den anderen. Es ist kalt. Die Menschenschlange vor dem SO 36 ist gut zwanzig Meter lang. Es ist der zweite Dienstagabend im Monat. Kiezbingo-Abend. Von der Tür her verkündet eine muffige Stimme: „Es ist voll. Sitzplätze gibt’s keine mehr. Wer trotzdem noch reinmöchte …“ Doch niemand geht. Michaela kommt oft zum Bingospielen. „Das Schlangestehen lohnt sich wirklich. Diese absurde Variante des Alte-Damen-Spiels muss man gesehen haben.“

Drinnen ist die Kälte der Straße sofort vergessen. Die Spieler sitzen Schulter an Schulter, sichtlich freudiger Erwartung, an den aufgereihten Bierbänken. Nina Hagens „Viva las Vegas“ dröhnt aus den Boxen, und ein Hauch von Glamour und dem Traum vom großen Jackpot weht durch den Raum. Die Gespräche verstummen. Man ist schließlich zum Spielen gekommen.

„Toll hier, oder?“, gurrt Kitty mit tiefer Stimme und holländischem Akzent ins Mikrofon. Kitty Carell und Mary de Mol stelzen in den hohen Schuhen geübt auf die Bühne. Das Travestiepaar inszeniert den Spieleabend zu einem grotesken Spektakel. Wer gewinnt, muss auf der Bühne Rede und Antwort stehen und derbe Sprüche aushalten, bevor er den Preis sein Eigen nennen darf. „Ich find’s auch immer Spitze. Wir sind auch nicht so böse. Eigentlich“, raunt Mary. Markus aus Kreuzberg lächelt vielsagend: „Na ja. Zum Glück habe ich noch nie gewonnen. Dann muss man da rauf und wird fertig gemacht – oder angemacht.“

„Wir spielen die große Rosette!“ Mary legt das Muster, es ist der äußerste Kreis, auf den Overheadprojektor. „Ich weiß zwar nicht, wer auf so was steht – die meisten mögen’s lieber klein …“ Kitty lacht gekonnt dreckig und beginnt die Zahlen aus dem Betonmischer zu ziehen. „Den 3, die 24, 55 …“ Es wird still. Mehrere hundert Leute beugen die Köpfe über ihre Zahlenzettel. Wer nicht spielt, stört. „Bingo!“, schreit es aus den hinteren Reihen, die „Wild Flamingo Bingo Band“ spielt einen Tusch und stimmt eine flotte Melodie an. In den hinteren Reihen wird mitgeklatscht und geschunkelt.

Eine Gruppe Spätankömmlinge hat sich im Schneidersitz auf den Boden gesetzt. Sie konzentrieren sich, ohne ein Wort zu verlieren, auf ihre Zettel. „Also, es ist ganz einfach“, bekommt Caroline, die zum ersten Mal hier ist, die Regeln im Flüsterton erklärt. „Du holst dir die Zettel an dem beleuchteten Tisch. Die kosten nichts, aber man soll spenden. Mit den Münzen musst du das Muster legen!“ Das Kiezbingo ist eine wohltätige Veranstaltung. Der Erlös aller verkauften Bingozettel geht heute an die „Antirassitische Initiative e. V.“ für ihre Arbeit. Das Projekt stellt sich auf der Bühne kurz vor.

Madame de Mol in schwarzem Negligee und mit Schmetterlingsbrille stakst zu dem Tisch mit den Preisen. Währenddessen nimmt sich Madame Carell, ganz im 80er-Jahre-Look mit weißen Schulterpolstersweater über der weißen Unterhose, an der hinten ein bunter Federbüschel wippt, den Gewinner vor: „Und – hast du ’nen Freund oder so?“ Stefan schüttelt den Kopf. „Du hast vom Musikladen auf der Oranienstraße eine Nasenflöte und eine Mundharmonika gewonnen!“

Alle Preise sind Spenden von Kreuzberger Läden. „Bist du denn musikalisch?“ Stefan schüttelt wieder den Kopf. „Aber blasen – wie sieht’s damit …“ „Lassen wir das“, Kitty unterbricht ihre Kollegin und hakt sich bei Stefan ein, „auch für dir gibt es zum Abschluss ein: Super Sexy Bingo!“ Die Band spielt einen Tusch, und Kitty und Mary knicksen galant und ordinär zugleich ein Bein zur Seite weg.

Steve kommt aus England. „Man sagt, Engländer haben Bingospielen im Blut.“ Aber dort ist Bingo nur was für alte Damen, langweilig eben. Die Mischung hier sei etwas anderes, gibt Steve zu. Zehnmal hat er schon mitgespielt und zweimal gewonnen. Sein Glückspenny ist immer dabei. Angst davor, auf die Bühne zu gehen, hat er nicht.

In der Pause verrät Kitty, an die Bar gelehnt und ganz ohne holländischem Akzent: „Ich würd jeden verstehen, der uns mit Gemüse beschmeißt. Die hassen und die lieben uns.“