Schulen sind der Ort, an dem Prävention von sexuellem Missbrauch am besten stattfinden könnte – doch die sind von ihrem Auftrag überfordert und lassen sich auf dubiose Anbieter ein
: Mitschnacker und Giraffen

„Kronos“ e.V. schreibt sich die Prävention von sexuellem Missbrauch auf die Fahnen. Experten sind über die Methoden entsetzt aus Bremen Eiken Bruhn

Das Mädchen weint. Es ist sechs, vielleicht sieben Jahre alt und es möchte nicht an der Übung teilnehmen, die Lothar Riemenschneider vom Verein gegen sexuellen Missbrauch, „Kronos – die Zeit heilt nicht alle Wunden“, gerade mit den anderen zwanzig Grundschulkindern macht. Niemand bemerkt zunächst, dass die Kleine sich unwohl fühlt. Die Studentin, die die wegen Krankheit fehlende Lehrerin ersetzen soll ist damit beschäftigt, die aufgeregten Kinder zusammenzuhalten. Auch Herr Riemenschneider – ein in Laufkleidung gewandeter Endvierziger mit blondierten Haaren – hat kein Auge für das Mädchen, zu unruhig sind die anderen. Zweimal schon hat er die Kinder angebrüllt, damit sie endlich mitmachen. Ohne Erfolg. Dabei geht es doch um ihre Sicherheit.

Verführerisch: Kostenlos

„Habe ich gesagt, dass das ein Spiel ist?“, hat er vorhin unwirsch gefragt. Die Sache ist ihm ernst, die Prävention von sexuellem Missbrauch sein Ziel. Jetzt zum Beispiel sollen die Kinder zu zweit oder alleine an einem Auto vorbeigehen, in dem ein von Kronos angeheuerter Mann sitzt, der die Kinder „mitschnacken“ soll. Manche, die zu nah an das Auto herangehen, werden von ihm gepackt und ins Auto gesetzt.

Seit gut einem Jahr führt der bundesweit agierende Verein mit Sitz in Achim bei Bremen den dreistündigen „Giraffenkurs“ in Grundschulen durch – zuerst in Hamburg, jetzt auch in Bremen und vorzugsweise in Gebieten, die als „sozialer Brennpunkt“ bekannt sind. Auf ihrer Homepage werben die Kronos-Leute damit, fast 5.000 Kinder geschult zu haben. Telefonisch bieten sie sich den Schulen an – und die greifen zu, offensichtlich erleichert, den Eltern sagen zu können, dass etwas für die Sicherheit der Kinder getan wird.

Im Norden Bremens beispielsweise kam der Werbeanruf von Kronos gelegen – dort nehmen jetzt alle zwölf Klassen am Kronos-Programm teil. Besorgte Eltern hatten dafür gesorgt, dass dort schon im Vorjahr ein ähnlicher Kurs eines anderen Veranstalters stattfand. An dem hatten allerdings nicht alle Kinder teilnehmen können, denn einigen Eltern war er zu teuer. Das jüngste Angebot von Kronos dagegen schien fast zu schön, um wahr zu sein. Kostenlos. Ohne aufwändige Schulung der Lehrer – und ohne Elternabende. Eine Rückversicherung nach der Qualität des Kurses bei Experten hielt die Schulleiterin nicht für nötig. Hätte sie das vorher getan, wäre Herr Riemenschneider möglicherweise nie angetreten.

„Das Angebot erfüllt in keinster Weise die Qualitätsstandards, die wir uns für Präventionsarbeit gesetzt haben“, sagt stellvertretend für andere zu Kronos befragte Kinderschutzeinrichtungen Ursula Müller von Schattenriss, einem Bremer Verein, der seit 16 Jahren über sexuellen Missbrauch aufklärt und mit missbrauchten Mädchen und Frauen arbeitet. Die Liste der Kritikpunkte ist lang. Am problematischsten finden Fachleute wie Müller, dass keine Lehrer- und Elternarbeit stattfindet und den Kindern die Verantwortung für ihre eigene Sicherheit aufgebürdet wird. „Die Erwachsenen müssen dafür sorgen, dass Kindern nichts passiert“, sagt Müller. Außerdem müssten die Großen wissen, wie sie im Fall des Falles den Kleinen helfen können, wie sie vorgehen, wen sie informieren, was das Kind braucht.

Gegen Kritik immun

Kronos-Vertreter jedoch halten es für einen Vorteil, dass sie auf eine Fortbildung der Erziehungspersonen verzichten. „Wir wollen die Eltern nicht mit einem ambitionierten Konzept überfordern“, sagt etwa Kursleiter Lothar Riemenschneider. Dadurch sei die Schwelle niedriger, über die die Schulen springen müssen, wenn sie sich mit dem Thema befassen. „Wir wollen die Tür öffnen für eine weitere Auseinandersetzung“, sagt er. Und: „Wir hoffen in Zukunft auch Aufbaukurse anbieten zu können.“ Doch dafür fehle momentan die Zeit, schließlich seien sie bis zu den Sommerferien ausgebucht, und er leite die Kurse nebenberuflich.

Auch die Kritik, dass Kronos sowohl Kinder als auch Erwachsene nach den drei Stunden alleine lassen würde, weist er von sich. Wenn durch den Kurs ein Missbrauch offenbar würde, könne man sich an die kostenlose Kronos-Hotline wenden: Anrufer würden dann weiter vermittelt, an Therapeuten und andere Einrichtungen, mit denen man zusammenarbeite, an Dunkelziffer und Zündfunke in Hamburg beispielsweise oder an Schattenriss in Bremen. Auf Nachfrage muss Riemenschneider einräumen, dass von Zusammenarbeit keine Rede sein kann.

„Wir arbeiten nicht mit Kronos zusammen und werden das auch in Zukunft nicht tun“, sagt etwa Vera Falck, Geschäftsführerin von Dunkelziffer. Und Zündfunke und Schattenriss haben nur so viel mit Kronos zu tun, als sie gerne mal bei einem Kurs dabei wären. Doch die Kronos-Leute wollen sich von Fachleuten offenbar nicht in die Karten gucken lassen und gaben Schattenriss eine Abfuhr. Deshalb bezieht sich die Kritik der Expertinnen zunächst nur auf das Buch, das die Grundlage für den Giraffenkurs bildet.

Ausgedacht hat sich den Giraffenkurs speziell für Kronos die Hamburger Psychologin und Esoterik-Autorin Sigrid Westermann, deren Spezialität Licht-Meditationen sind. Auch in dem putzig-bunt gestalteten Kursbegleit-Buch finden sich diese Übungen wieder. Beschrieben wird „strahlendes weißes Licht“, das in ein „Energiezentrum“ über dem Kopf gelenkt werden und „ein Gefühl von Ruhe“ erzeugen soll. Was das mit Schutz vor sexuellem Missbrauch zu tun haben könnte, wird auf der nächsten Seite erklärt: „Alle Kinder, die an jedem Morgen diese Lichtübung machen, sind Tag und Nacht gut geschützt.“ Und weiter: „Kinder, die an Gott glauben, können sich jeden Abend und jeden Morgen bei Gott bedanken, dass sie sicher und beschützt sind.“

Missbraucht? Selbst schuld

Die Vorstellung, dass es einen sicheren Schutz vor sexualisierter Gewalt gibt, zieht sich durch das ganze Buch. Sätze wie „starke, selbstbewusste Kinder werden keine Opfer“ alarmieren unterdessen Expertinnen wie die Schattenriss-Frau Ursula Müller. „Damit werden die Kinder dafür verantwortlich gemacht, was mit ihnen passiert, die denken dann, sie waren nicht stark genug“, sagt Müller. Immerhin distanziert sich Kronos mittlerweile von dem Buch. „Wir würden das nicht mehr so absolut sagen“, räumt Riemenschneider ein. „Wir stehen aber nach wie vor dazu und sind stolz darauf.“ Und vom Markt nehmen könne man es nicht so einfach.

Doch auch die Art und Weise, in der die Kurse durchgeführt werden, stimmt Fachleute nachdenklich. Dass zum Beispiel ein Mädchen anfängt zu weinen und sich niemand darum kümmert. „Wir gehen in große Gruppen immer mit mindestens zwei Leuten, am besten einer Frau und einem Mann, um wirklich auf die Kinder eingehen zu können und auch zu merken, wie die Einzelnen damit umgehen, ob möglicherweise Kinder mit Missbrauchserfahrungen darunter sind“, sagt Müller.

Problematisch sei auch, dass die Kinder angefasst würden. Bei einer Übung zum Beispiel fordert Riemenschneider die Kinder dazu auf sich zu wehren, während er sie auf den Arm nimmt. „Ihr könnt noch so viel Selbstverteidigung und Judo machen, ein Erwachsener ist immer stärker“, ist die Botschaft. „Niemals“ würde sie in so einem kurzen Kurs ein Kind auf diese Weise berühren, sagt Müller mit Nachdruck. „Wenn überhaupt, dann Jugendliche und die auch nur nach mehreren Sitzungen und nach Absprache.“ Die Gefahr sei zum Einen, dass das Kind in sehr „angstauslösende Situationen“ gerät. Zum Anderen müsse ein Vertrauensverhältnis aufgebaut werden, in dem ein Kind zu jeder Zeit etwas abbrechen kann, ohne zu denken, es habe etwas falsch gemacht. „Prävention heißt vor allem, dass Kinder Erwachsenen nicht willenlos folgen, sondern darauf achten, wie es ihnen dabei geht.“ Anschreien sei in diesem Zusammenhang kontraproduktiv. Wenig hält sie auch davon, dass den Kindern eingeschärft wird, sie müssten „schlimme Situationen“ vermeiden. „Wenn sie missbraucht werden, müssen die denken, sie seien selbst Schuld.“

„Sponsoren und Spenden“

Doch die Kronos-Leute ficht alle Kritik nicht an. Der Kurs sei sehr untypisch gewesen, weil die Kinder wegen der Abwesenheit der Lehrerin unruhig waren, entschuldigt Riemenschneider. Eine besondere Qualifikation, etwa eine anerkannte Weiterbildung für den Umgang mit Opfern von sexuellem Missbrauch hätten er und seine drei KollegInnen nicht, gibt er zu. Als Motivation geben die Kronos-MitarbeiterInnen eigene Missbrauchserfahrungen oder Betroffenheit über das Schicksal von bekannten und unbekannten Kindern an. Einen finanziellen Hintergrund gebe es nicht. So wolle man mit zwielichtigen Vereinen, die in erster Linie Geld über Callcenter akquirieren, nichts zu tun haben, sagt Achim Beinar, Sprecher von Kronos und nach eigenen Angaben Geschäftsführer des Hamburger Call-Centers Media Kontor Haug. „Wir finanzieren uns durch Sponsoren aus der Wirtschaft, Spenden und Mitgliedsbeiträge“, sagt Beinar. Deshalb könnten die Kurse auch kostenlos angeboten werden. In den Vereinsstatuten ist festgelegt, dass der Verein seine Arbeit unter anderem aus dem „Verkauf von Werberechten (Merchandising)“ finanziert. Eine Praxis, die unter anderem der Hamburger Verein Dunkelziffer ablehnt: „Wir nehmen keine öffentlichen Mittel, würden aber auch nie mit Callcentern zusammenarbeiten“, sagt Geschäftsführerin Falck.

Der fremde Mann

Bei aller Kritik von Experten: Die Schulen, an denen die Kurse durchgeführt werden, sind zufrieden. „Ich habe den Eindruck, dass die Kinder viel gelernt haben“, sagt eine Lehrerin der Bremer Schule, an der Kronos zurzeit aktiv ist. „Sie lernen schneller wegzulaufen, anstatt sich in Gespräche verwickeln zu lassen.“ Dass in ihrer Gruppe kaum über sexuellen Missbrauch in der Familie oder im Bekanntenkreis geredet worden sei, wäre in Ordnung. „Dazu hätte es mehr Zeit und ein anderes Vetrauensverhältnis gebraucht.“

Aber auch hier schlagen die anderen Vereine Alarm. „Mit der Realität hat das nichts zu tun“, sagt Klaus Machlitt vom Kinderschutzzentrum Hamburg. „Die meisten Übergriffe finden im sozialen Nahbereich statt und nicht durch den fremden Mann aus dem Busch.“ Dadurch würde den Kindern ein völlig falsches Bild vermittelt – „die Welt da draußen ist gefährlich“ – und das eigentliche Problem nicht berührt. Denn in der eigenen Wohnung gibt es keine fremden Männer, die in Autos auf ihre Opfer warten.