Der Parteisoldat

Johannes Kahrs ist SPD-Bundestagsabgeordneter aus Hamburg-Mitte. Er unterstützt Kanzler Schröders Reformen. Und Münteferings Beförderung. Doch in seinem Wahlkreis können viele Menschen keine 10 Euro Praxisgebühr bezahlen. Wie kriegt Kahrs das zusammen?

VON JAN FEDDERSEN

Johannes Kahrs versteht die Welt wieder besser. Locker steht er in den Räumen der Parlamentarischen Gesellschaft und plaudert. Führt Gespräche über marinepolitische Fragen. Er saß in der vorigen Legislaturperiode im Verteidigungspolitischen Ausschuss – und als Abgeordneter aus Hamburg, in dessen Wahlkreis Werften liegen, hat er diese Fragen zu seiner Sache gemacht.

Kahrs, 40, wirkt wieder besser beieinander, unbesorgter als noch Freitag. Nicht mal ansatzweise ist ihm anzumerken, dass er ein Mandatsträger ist, der womöglich nicht mehr wiedergewählt würde, hätten die Wähler in diesen Tagen abzustimmen.

Kurz nachdem durchgesickert war, dass der Bundeskanzler den Job als Parteichef der SPD an Franz Müntefering übergeben würde, war Unruhe unter den Seeheimern aufgekommen, denen Kahrs als Sprecher vorsteht, deren gesellige Treffen er organisiert, also deren Leben zwischen Politik und Privatem er mit im Blick hat.

Schmälert der Rückzug Schröders die Chancen noch weiter, vielleicht sogar bei den Hamburger Bürgerschaftswahlen Ende des Monats? Ob „die Partei“, wie Kahrs sagt, mit mehr Selbstvertrauen in die nächsten Monate gehen könnte, das harre der Interpretation. Kahrs sagt nun: „Das ist eine gute Entscheidung, denn der Franz hat ein anderes Gefühlsverhältnis zur Basis.“

Die Seeheimer sind ein Zirkel in der SPD, der in den Siebzigern legendär wurde, weil er sich als Phalanx wider die Anfechtungen der Achtundsechzigerbewegung verstand und also mehr Helmut Schmidt als Willy Brandt zuneigte. Diese Seeheimer sind ja im Grunde mehr als alle Michael Müllers und Sigrid Skarpelis-Sperks die Seele der Partei. So muss Kahrs’ Einschätzung ernstgenommen werden, die er an diesem Abend in der Kneipe der Parlamentarischen Gesellschaft von sich gibt: „Die Untergangsstimmung ist nicht groß.“

Andererseits könnte dies auch der verlogene Optimismus eines Politikers sein, der gern schön redet. Die SPD im Keller? Kahrs sagt: „Eigentlich müssten wir mit geschwellter Brust durchs Land gehen. Tun einige aber nicht.“ Ein Satz, der seinen zweifelhaften Glanz erst entfaltet, wenn man seine Zusätze zitiert: „Ich bin Parteisoldat. Nach außen muss man gemeinsam auftreten.“ Und fügt: „Da kann ich sehr emotional werden. Und andere nehmen das als Jähzorn. Stimmt aber nicht.“

Seit an Seit, in diesem Sinne weiter räsoniert, ganz ruhig, nicht mal jähzornig, wie seine Kritiker Kahrs’ Tonlage auch beschreiben: „Die SPD versucht, den Laden zusammenzuhalten, die CDU ist mehr für die klare Kante. Die guckt, wo die mehreren sind und schneidet dann ab.“ Deshalb sei er in der SPD eingetreten. Er, Sohn einer Lehrerin und eines Staatsrats aus Bremen, sozialdemokratisches Elternhaus, Jurist und Major a.D. („Panzergrenadier“): um den Laden, also die Republik zusammenzuhalten. Und nur seine Partei habe den Blick fürs Gemeinwohl, weil sie auf die klaren Kanten gegen die kleinen Leute verzichtet. Sein Idol war übrigens nicht, wie in seiner Generation üblich, Willy Brandt („Habe ihn nur als alten Mann erlebt, das war wenig inspirierend“). Sondern Helmut Schmidt.

Womit er auf seinen Wahlkreis zu sprechen kommt, der ist Hamburg-Mitte. An den Rändern wohlhabende Bürgerlichkeit, im Zentrum aber Stadtteile wie Billstedt, Horn und Hamm, Finkenwerder, St. Pauli und Steinbek. Da leben Menschen, die über die 10 Euro Praxisgebühr verzweifeln und an SPD-Ständen auf Marktplätzen nicht mal mehr über Ausländer zu pöbeln wagen, weil ihnen die Kraft fehlt, dorthin zu kommen. „Vollgepinkelte Fahrstühle, beschmierte Treppenhäuser“, sagt Kahrs, finde man da, „Häuser, die verwahrlosen. Dort leben Menschen, denen die völlig kranken 50 Millionen für die Essers und andere am Arsch vorbeigehen. Die nur merken, dass sie arbeiten gehen und der Nachbar sich einen Kühlschrank vom Sozialamt organisiert. Um solche Menschen muss man sich kümmern.“

Denen muss man erklären, was in Berlin so läuft mit RotGrün. „Dass wir vieles ändern mussten, damit es bleibt, wie es ist. Den Sozialstaat erhalten“, sagt Kahrs in der Sprachregelung der Parteispitze – also ganz Parteisoldat. Er habe die Erfolgsgeschichte der Nazis ganz genau studiert, und die hätten ihre ersten Erfolge dort verbuchen können, wo die Proleten die Modernisierung nicht mehr mitmachen konnten, denn „nicht alle sind so gut qualifiziert und erfolgreich, dass sie keine Angst vor der Globalisierung haben müssen“. Gerade jene reagierten ängstlich auf die Konkurrenz der Ausländer, die schon für Geringstlöhne arbeiten. „Ich kenne in meinem Wahlkreis kaum Leute, die über ein geschlossenes rechtsradikales Weltbild verfügen – aber viele, die sich allein gelassen fühlen.“

Mit denen suche er Kontakt, in deren Viertel versuche er etwas besser zu machen. „Es nützt doch nichts, wenn man sagt, das ist mies da. Man muss diese Viertel auch gutreden – und aufwerten, indem man dort was tut.“

Die gute Seele Kahrs. Ein Mann, in dessen Freundlichkeit Fraktionskollegen kaum mehr als verhüllte Machtansprüche erkennen, der in der Bundeswehr fraglos dienen gelernt hat. Der die Grünen mit Respekt sieht, zugleich aber für unfähig hält, eben diese Milieus der Überflüssigen auf dem Radar zu haben: Dieser Kahrs ist ja in seiner Fraktion bei einigen KollegInnen durchaus verhasst. Mindestens „Strippenzieher“ nennen sie ihn, gern auch „Arschloch“.

Er ist einer, der offen sagt, dass er die Abgeordnete Sigrid Skarpelis-Sperk für keine Heldin hält, weil deren Missmut über die Agenda 2010 zum schlechten Image der Regierungspolitik beigetragen habe. Aber „nichts gegen Linke“, Andrea Nahles, zum Beispiel, „finde ich gut. Die übt oft Kritik, aber sie würde sich nie wichtiger nehmen als die Partei.“

Von seinen Seeheimern jedenfalls sei vor den entscheidenden 2010-Abstimmungen niemand ausgeschert, was auch nicht wundert, denn Kahrs hält sie bei der Stange. „Man muss mit den Kollegen reden, ihnen sagen, dass man keine Wahl hat – und dass es auf sie ankommt, wenn man die Regierung stützen will.“ Die Linken in seiner Partei verfügten über solche Netzwerke gegen hauptstädtische Einsamkeit jenseits des parlamentarischen Betriebs nicht, obwohl viele von ihnen, beispielsweise, die Seeheimer Spargelfahrt im vorigen Spätfrühling gerne mitgemacht haben. Kahrs ist gerade bei solchen Veranstaltungen ganz bei sich: come together, talk together – und alles würde gut.

Der Mann kann sich das leisten, selbst seinen Jähzorn muss er nicht mehr verdecken, wenn die Dinge innerfraktionell mal wieder so laufen, dass man die gehässige Presse fürchten muss. Kahrs, in Hamburg immer politisch jenseits des ökofreundlichen Flügels angesiedelt, ist in seiner Heimat über keine Landesliste abgepuffert. Aber sein Direktmandat gewann er trotzdem – zugleich vor anderthalb Jahren für seine Partei mit dem besten Resultat aller Wahlkreise an Elbe und Alster. Gerade in den so genannten Überflüssigenmilieus war die Zustimmung für ihn, zumindest für manche Parteigenossen, irritierend fett.

Nun also vorwärts mit Müntefering? Auf jeden Fall. Müntefering hat die Art von Väterlichkeit, die für Genossen wie Kahrs die Partei von der Union unterscheidbar macht. Kahrs sagt: „Springt die Wirtschaft an, haben die Menschen wieder Arbeit, können wir gewinnen.“ Außerdem: „Manche denken vielleicht, in der Opposition war es gemütlicher. Dann würden die sich Gewerkschaften links und die Initiativen rechts unterhaken – und die Republik stünde Kopf. Aber das würde an all den Problemen, die wir haben, nichts ändern“. Ja, Johannes Kahrs ist guter Dinge. Kann er auch sein. Der Strippenzieher, der diese Charakterisierung nicht als Vorwurf nimmt, hat eine große Zukunft vor sich.