Der vergebliche Traum von der Auswanderung

Tausende stehen vor Bagdads Passamt an. Doch der Versuch, vor den Problemen davonzulaufen, ist meist zum Scheitern verurteilt. Im neuen Irak gibt es nur Übergangspapiere, die lediglich von zwei Ländern anerkannt werden

BAGDAD taz ■ Sie strahlen Optimismus aus, die Plastikhüllen für Pässe und Dokumente, die ein alter Mann vor Bagdads Passamt feilbietet. Statt mit dem alten irakischen Staatsadler, der unter Saddam Husseins Regime jedes offizielle Papier zierte, sind die neuen Hüllen mit dem Emblem einer Taube bedruckt, die friedfertig und frei beschwingt um einen Globus fliegt.

Doch der Schein trügt: Die Passzentralstelle im Bagdader Viertel Karada dürfte wahrscheinlich weltweit die einzige ihresgleichen sein, die keine Pässe ausstellt. Deren Druck und Ausstellung sind irgendwo zwischen der nicht vorhandenen irakischen Souveränität und dem Verwaltungschaos unter US-Besatzung verschütt gegangen.

Dennoch haben sich auch heute, wie jeden Morgen, mehrere hundert verzweifelte Ausreisewillige dort versammelt, um ein Dokument zu ergattern, mit dem wunderschönen Amtstitel „Übergangsreisedokument der provisorischen Koalitionsverwaltung im Irak.“ Wer ein solch vergängliches Papier in den Händen hält, der kann wenigstens hoffen, ins benachbarte Jordanien oder Syrien zu reisen, den einzigen beiden Ländern, die dieses Dokument anerkennen.

Die einzige Alternative dazu wäre, seinen alten irakischen Pass zu erneuern. Aber schon zu Saddams Zeiten hatte ein solcher eher Seltenheitswert. Die Kosten und die zu hinterlegende Geldgarantie in der Höhe eines Beamtengehaltes mehrerer Jahre war für die meisten eine zu hohe Hürde. Familien, deren Angehörige im Militär oder anderen sensiblen Institutionen arbeiteten, war das Reisen gleich grundsätzlich untersagt.

„Heute kann jeder reisen, mit Ausnahme der 55 von den Amerikanern gesuchten Vertreter des alten Regimes“, erklärt Polizeihauptmann Abdel Hakim Abu Jassem, der Chef der Passausstellbehörde, der mit viel Mühe im Gedränge ausfindig zu machen ist. Zumindest theoretisch. Sein Amt hat Anweisung von der US-Besatzungsverwaltung, für die Fünfmillionenstadt Bagdad täglich nicht mehr als 200 provisorische Reisedokumente auszustellen. Ein Tropfen im Ozean der draußen Wartenden.

Den Vortritt haben alle jene, die vom provisorischen Regierungsrat geschickt werden, und Kranke, die nicht im Irak behandelt werden können. „Herzkranke oder Menschen mit Gehirntumor“, erklärt Abu Jassem, hätten eine ganz gute Chance. Für alle anderen gleicht der Gang zum Passamt eher einer Lotterie.

Zu den heutigen Gewinnern zählt Wafa Michael Butrus. „Wir fahren in die Vereinigten Staaten von Amerika“, sagt sie und kann kaum an sich halten. Sie wird sich mit ihrem Mann und ihren vier Kindern in wenigen Tagen auf den Weg nach Jordanien machen, wo angeblich ein Visum für die USA vorliegt. Ein großer Teil ihrer christlichen Familie lebt bereits in Detroit. Seit 15 Jahren habe sie ihre dort lebende Mutter nicht mehr gesehen. „Das wird ein Einfachticket ohne Rückkehr“, hofft Wafa, die geduldig etwas abseits der Menge wartet, bis ihr Sohn mit dem Reisedokument zurückkehrt. Sie hat ihn noch einmal losgeschickt, damit die Namen in Englisch und nicht in Arabisch eingetragen werden.

Ob das für die US-Botschaft in Amman von Relevanz ist, ist allerdings fraglich. Das von den US-Besatzern eingeführte provisorische Reisedokument gilt nicht für Amerika. Aber davon will Wafa in ihrer stillen Zufriedenheit nichts hören.

Auch Chadija hält eine Mappe mit Reisegenehmigungen für sich und ihre drei Söhne in der Hand. Die 45-Jährige will ihrem Mann folgen, einem ehemaligen Militärarzt mit hohem Offizierstitel, der als einstiger Baathist keine Anstellung mehr in Bagdad finden konnte. Kurz nach dem Krieg ist er abgehauen. Seine erste Chance, denn früher hätte er als hoher Offizier weder für sich selbst noch seine Familie eine Ausreisegenehmigung bekommen. Inzwischen arbeitet er im Golfemirat Katar in einem Krankenhaus, und Chadija hat nur einen Wunsch: ihm mit ihrem Kindern zu folgen.

„Es ist zu schwierig und zu gefährlich, allein als Frau mit meinen Kindern in dieser unsicheren Situation zu leben“, sagt sie. Jeden Tag habe sie Angst, dass einer ihrer Söhne nicht mehr nach Hause kommt. „Dann würde ich mich umbringen“, erklärt sie. „Ich liebe mein Land, ich habe hier die glücklichsten Tage meines Lebens verbracht, geheiratet, und wir haben unser eigenes Haus gebaut“, erinnert sie sich.

Selbst als sie ihren Vater begleitete, der Anfang der Siebzigerjahre als Rechtsberater vier Jahre in der irakischen Botschaft in Bonn arbeitete, war sie froh, wieder in ihr Land zurückzukehren. „Aber jetzt gibt es keinen anderen Weg als raus. Ich möchte in Sicherheit leben und meinen Söhnen eine Zukunft bieten.“ Hier im Irak habe sie keinerlei Rechte und es gebe niemanden, zu dem sie gehen könne, um sie einzufordern. Dann blättert sie noch einmal in ihrer Mappe herum: vier lose Blätter, für sie und ihre Söhne jeweils eines. „Eigentlich weiß ich, dass diese Papiere nichts wert sind. Die Behörden in Katar werden das niemals akzeptieren.“

Ali, der Schuhputzer vor dem Haupteingang, sieht das alles ganz gelassen. Er ist vor wenigen Wochen aus dem südlichen Nassrija gekommen, um den Ausreisewilligen das Schuhwerk zu polieren. Im Schnitt putzt er täglich 20 Paare, an deren Sohlen die Hoffnung klebt, demnächst ausländischen Boden zu betreten. Er selbst hat keine Träume, wegzukommen. „Das ist und bleibt mein Land“, erklärt er, während er mit einer alten Zahnbürste die Ränder der Sohlen säubert und dann geschickt die Schuhcreme verteilt. „Die Leute hier versuchen einfach, vor ihren Problemen davonzurennen“, philosophiert er, holt sein Poliertuch hervor und fügt am Ende hinzu: „Den meisten wird das nicht gelingen.“

KARIM EL-GAWHARY