Ein Moment völliger Freiheit

Die Soldaten Saddam Husseins, seine Polizei, seine Anhänger, sie alle sind verschwunden. In Bagdad herrscht Jubel – und Chaos

von BEATE SEEL

„Wir werden sie angreifen und zerstören“, sagte der irakische Informationsminister Mohammed al-Sahhaf am Dienstag auf seiner täglichen Pressekonferenzen über die US-Soldaten in Bagdad. „Sie werden sich ergeben oder in ihren Panzern verbrennen.“ Seitdem schweigt das Sprachrohr Saddam Husseins. Selbst ihm wäre es nicht gelungen, die feiernden Menschen in Saddam City in jubelne Regimeanhänger umzuinterpretieren.

Das waren die Bilder, auf die nicht nur die Regierung in Washington gewartet hat: jubelnde Schiiten, die die amerikanischen Soldaten als ihre Befreier begrüßten. Dies und die Plünderungen zeigen, dass das Regime in Teilen Bagdads jedwede Kontrolle verloren hat – ähnlich wie in den vergangenen Tagen im südirakischen Basra nach dem Einrücken der britischen Truppen. Es ist der kurze Moment völliger Feiheit, ehe eine wie auch immer geartete neue Macht an die Stelle der alten tritt.

Eine Frage drängt sich dabei geradezu auf: Wo sind die 380.000 Soldaten Husseins und die 500.000 bis 650.000 Reservisten, wo die 125.000 Mitglieder der Republikanischen Garden oder deren 25.000 Mann starke Sondereinheit, wo die Fedajin Saddam und sonstige bewaffnete Einheiten? Wo ist die Polizei, wo der gefürchtete Geheimdienst? Im de facto autonomen Kurdistan sind bislang nur wenige Deserteure eingetroffen, diese aus irakischen Einheiten entlang der Demarkationslinie kamen.

Wenn die Soldaten zu zehntausenden zu den amerikanisch geführten Truppen übergelaufen wären, hätten wir dies mit Sicherheit erfahren, wäre das doch ein großer Erfolg für die Verbündeten gewesen. Möglich ist, dass einige dieser Truppen in Husseins Heimatregion um Tikrit zusammengezogen sind. Wahrscheinlich ist aber, dass ein Großteil der bewaffneten Kräfte ihre Uniform ausgezogen hat und bei Verwandten und Freunden der Dinge harrt, die da kommen. In der ARD trat gestern bereits ein ehemaliger irakischer General in T-Shirt auf und sagte, es sei der Armee nicht gelungen, das Land zu verteidigen.

Doch diese Leute besitzen Waffen, die sie jetzt vermutlich versteckt haben. Weniger die einfachen Soldaten als vielmehr Angehörige fanatischer Sondereinheiten könnten Angriffe auf die US-Truppen oder Anschläge auf Vertreter der neuen Übergangsverwaltung versuchen. Außerdem gab es immer wieder Berichte über Kontakte von US-Vertretern mit irakischen Militärs und Stammesführern. Möglicherweise hat dies zum schnellen Zusammenbruch des Regimes beigetragen.

Der verständliche Jubel der Menschen in Saddam City und anderswo droht allerdings auszuarten. Wenn aus einem Haus von Saddam Husseins Sohn Udai Vasen abgeschleppt werden, ist das eine Sache. Eine andere ist, wenn selbst Schulen und Universitäten leer geräumt werden, also die eigene Infrastruktur zerstört wird, wie in Basra geschehen. An Morgen wird da nicht gedacht. Derartige Aktionen erwecken den Eindruck, dass jede öffentliche Einrichtung mit dem Regime identifiziert wird. Dazu kommt das starke Motiv persönlicher Bereicherung: Aus wirtschaftlicher Not haben viele Familien im Irak in den vergangenen Jahren alles irgendwie Verzichtbare verkauft – bis hin zu Zimmertüren, die in den Straßen Bagdads feilgeboten wurden.

Die Zeit der Rechtlosigkeit birgt freilich auch eine andere Gefahr in sich. Im Irak ist bisher noch jeder Regimewechsel mit brutalen Abrechnungsorgien einhergegangen. Und während des schiitischen Aufstands 1991 im Süden des Landes wurden Vertreter des Regimes auf offener Straße umgebracht. Der Nachrichtensender al-Dschasira berichtete bereits über blutige Abrechnungen in Basra; Parteimitglieder wagten sich nicht mehr aus ihren Häusern. Britische Soldaten fingen gestern an, Plünderer festzunehmen. Die USA haben schon angekündigt, sie würden die Zahl ihrer Soldaten in Bagdad verdoppeln.

Mit dem Zusammenbruch des Regimes ist der Krieg freilich noch nicht beendet. Auch gestern kam es im Zentrum Bagdads noch zu Kämpfen; die US-Luftwaffe flog Angriffe auf die Heimatstadt Saddam Husseins, Tikrit, und auf andere Ziele im Norden des Landes. In den kommenden Tagen kann es noch zahlreiche heftige Gefechte geben.

Das im Land drohende Chaos – vielfach auch von Irakern selbst befürchtet – dürfte nun dazu führen, dass die neue Übergangsverwaltung nun beschleunigt eingerichtet wird. Nach US-Plänen sollte die Administration – das Wort „Regierung“ wird vermieden – nächste Woche in Nassarija eingesetzt werden. Es könnte auch sein, dass dieses Ereignis nun in die Hauptstadt verlegt wird.

Die Zukunft des Irak ist weiter ungewiss. Aber am heutigen Tag darf man sich mit den Menschen in Saddam City einfach mal freuen.