Erinnerungen aus Sperrholz und Leim

Nur ein Bild für die Ewigkeit: „After Life“ von Hirokazu Kore-Eda erzählt vom Vorzimmer zum Paradies – einem Kino

Gut gelaunte Sachbearbeiter, die sich Zeit nehmen und gerne zuhören. Warmes Licht, das durch die Fenster der Beratungsräume fällt. Einzelzimmer für alle. Das muss das Paradies sein.

Ist es aber nicht. Es ist nur dessen Vorzimmer. Hierher kommt man, wenn man gestorben ist, und man verlässt diesen Ort wieder im Kinosessel. Die Idee, dass nach unserem Ableben eine ebenso freundliche wie engagierte Crew darauf wartet, unseren wertvollsten Moment für uns zu verfilmen, damit es im Jenseits nicht so sterbenslangweilig wird, ist an sich schon zum Weinen sympathisch. Aber es kommt noch dicker. Regisseur Hirokazu Kore-Eda lässt die Gerechtigkeit des Kinos für alle walten. Kein Strafgericht, kein Fegefeuer, nur die einfache wie schwerwiegende Frage: Welches Bild wollen Sie mitnehmen in die Ewigkeit?

Das Fantastische an Hirokazu Kore-Edas Film ist nicht dessen Prämisse – es ist im Gegenteil die unaufgeregte, fast nüchterne Haltung seiner Inszenierung, die das Fantasy-Potenzial des Plots vollkommen herunterspielt und sich gar nicht erst mit der Frage belastet, mit welch überirdischen Spezialeffekten solch ein Zwischenreich denn ausgestattet sein müsste. Dort sieht es genauso aus wie hier, nur eben ein bisschen herbstlicher. Himmlische Produktions-Budgets darf man dort nicht erwarten. Erinnerungen werden aus Sperrholz und Leim zusammengezimmert, der Schulbus der Kindheit scheint sich zu bewegen, weil von außen Leute an ihm wackeln, die Wolken sind aus Baumwolle und werden an feinen Drähten über den gemalten Himmel gezogen. Das Eigentliche einer Erinnerung kann von der Kamera ohnehin nicht erfasst werden. Was ist das richtige Bild für das Gefühl, das der Fahrtwind am offenen Fenster auf der Haut verursacht? Für den Geschmack und den Duft von Reis, der mit großem Hunger verschlungen wird? Die Bilder – und das lehrt ausgerechnet dieser Film – sind für sich genommen gar nicht so wichtig.

Hirokazu Kore-Eda, der jahrelang Dokumentarfilme gedreht hat, mischt in „After Life“ fiktionale und reale Interviews. Auch die Schauspieler selbst, heißt es, haben während der Dreharbeiten ihre vorgefertigten Texte zur Seite gelegt und sich entschlossen, aus ihrem eigenen Leben zu erzählen. So gelingt dem Film ein fantastischer Realismus, wie es einem Film über das menschliche Gedächtnis nur angemessen sein kann. Wer „After Life“ gesehen hat, wird sich dabei ertappen, seinem Lieblingsregisseur den baldigen Tod zu wünschen. Man könnte ihn brauchen, dort drüben.

DIETMAR KAMMERER

„After Life“. Regie: Hirokazu Kore-Eda. Mit Erika Oda, Susumu Terajima u. a., Japan 1998, 118 Min., ab 10. 4. im fsk