Mehr als nur mitgemacht

Deutschland trainiert für Olympia (Teil 7): Leipzig ist vom Außenseiter zu einem ernst zu nehmenden Kandidaten mutiert. Das hat den kollektiven Olympiataumel im Osten noch weiter befeuert

aus Leipzig MICHAEL BARTSCH

600.000 sächsische Schüler sollen heute noch einmal den Beistand der olympischen Götter für Leipzig erflehen. Schulfrei gibt es nicht, aber ein „Sport frei“ auf Schulsportfesten, Meetings und Projekttagen. Höhepunkt im Wortsinn wird der Aufstieg von jeweils 2.012 Luftballons in den fünf Regionalschulamtsbezirken sein. Auf Nordwind wird gehofft, denn die leibhaftigen olympischen Götter des NOK versammeln sich tags darauf in München, um sich Punkt 15.35 Uhr von der Leipziger Präsentation beeindrucken zu lassen. Die blieb bisher streng geheim.

Auch die PDS unterstützt den Olympiatag an den Schulen ausdrücklich und wünscht sich sozusagen everlasting Olympia, weil in Griechenland während der Spiele keine Kriege geführt werden durften. In diesen Vorentscheidungstagen war Krieg ohnehin nur zweites Thema in Sachsen. Die Junge Union läuft eine Staffel von Dresden nach Leipzig, Schulen tragen in Chemnitz eine Art Landesolympiade aus, Guiness-Rekordversuche werden den Spielen gewidmet. Der MDR hat in den Regionalmagazinen eine Count-down-Uhr laufen und sendet eine Gala nach der anderen. Das Logo „Spiele mit uns“ ziert inzwischen bereits die Briefköpfe der Staatsregierung. Der Autor dieser und der taz-Zeilen vom 12. März bekam zu spüren, was es heißt, als Einzelner wider das olympische Feuer in den Herzen aller Sachsen zu schreiben: In der darauffolgenden Landtagsdebatte wurde er von einer CDU-Hinterbänklerin öffentlich abgewatscht. „Wenn Leipzig es nicht schafft, wissen wir nun, an wem es gelegen hat“, bemerkte auch Landessportbundchef Hermann Winkler augenzwinkernd.

Der kollektive Olympiataumel kann nicht allein mit der Massenpsychologie von „Brot und Spielen“ des römischen Dichters Juvenal erklärt werden. Die Leipziger Bewerbung rührt auch an einen alten Traum und an starke, im Nachwendejahrzehnt etwas gebeutelte Traditionen der Stadt. Schon in den Zwanzigerjahren gab es Pläne für einen Olympiapark. Und im letzten Jahr der SED-Herrschaft lagen die kompletten Unterlagen für eine Olympiakandidatur schon einmal in Erich Honeckers Schubladen.

Denn Leipzig war unbestritten die Hauptstadt des DDR-Sports. Die legendären Turn- und Sportfeste hatte einst auch IOC-Präsident Samaranch als die „beste Sportschau der Welt“ gelobt. Gemeint waren vor allem jene Massenspektakel „sozialistischer Volkskörperkultur“, so ein Reporter damals. Schon damals gab es für die 100.000 Stadionplätze die siebenfache Zahl von Vorbestellungen. „Wir bauen keine Kathedrale in die Wüste“, sagt Oberbürgermeister Wolfgang Tiefensee – und kann weiterhin auf eine Zustimmungsquote von 92,4 Prozent zur Olympiabewerbung bauen.

Das Zentralstadion wird derzeit aufwändig für die Fußball-WM 2006 umgebaut und ist trotz mäßigster Erfolge der städtischen Vereine ausschließlich für diese Sportart vorgesehen. Mit dem übrigen Sportstättenangebot muss sich Leipzig aber keineswegs verstecken: Olympiapark, Dorf und Medienzentrum bilden eine so genannte „Spange“ in Zentrumsnähe. Die im Süden unmittelbar angrenzende ehemalige Braunkohle-Tagebaulandschaft bietet ideale Bedingungen für die Gelände- und Wassersportarten.

Der Evaluierungsbericht des NOK hob denn auch die besonders kompakten und damit sparsamen und umweltschonenden Leipziger Pläne hervor. Den überraschenden zweiten Platz in einem dicht beieinander liegenden Bewerberfeld verdankt Leipzig einer sehr ausgeglichenen Platzierung bei allen Bewertungskriterien.

„Die Leute, die uns nur einen Preis fürs Mitmachen geben wollten, sind sehr still geworden“, sagt Oberbürgermeister Tiefensee. Hinter vorgehaltener Hand wird im Rathaus freilich von der Lobby der Sportverbände mit Sitz im Westen und vor allem in Nordrhein-Westfalen geflüstert. Inoffiziell hat mancher auch schon Erfahrungen mit der Überheblichkeit westdeutscher Mitbewerber gemacht. Paradoxerweise könnten die internationalen Chancen Leipzigs sogar besser stehen als die nationalen. In 105 Ländern sind die 3.700 internationalen Absolventen der ehemaligen Deutschen Hochschule für Körperkultur tätig, die heute sportwissenschaftliche Fakultät der Universität ist. Im IOC sitzen beispielsweise Sam Ramsay als Präsident des NOK Südafrikas oder Hassan Mostafa Moussa als Präsident der Handballföderation Ägyptens.

Niemand hat allerdings bisher gesagt, zu wessen Lasten im Ernstfall der städtische und der Landesanteil an den 2,5 Milliarden Euro Investitionskosten in den prekären Haushalten umgeschichtet werden soll. Unerschütterlich wird an eine hohe Rendite geglaubt, obschon Leipzigs Olympiabeauftragter Burkhard Jung anfängliche Kommentare wie „Größenwahn“ aus dem Jahre 2001 einräumt.