„Schröder kann von der IG Metall lernen“, sagt Rudolf Hickel

Der Metall-Tarifabschluss ist wirtschaftlich vernünftig – und er stärkt die politische Position der Gewerkschaften

taz: Herr Hickel, die Arbeitgeber in Sachsen wollen den Tarifabschluss in der Metall- und Elektrobranche nicht übernehmen. Droht der IG Metall im Osten ein neues Desaster, so wie 2003, als der Streik zusammenbrach?

Rudolf Hickel: Nein. Da gibt es kein Desaster. Die Lage ist anders als 2003, weil es diesmal um Lohnprozente geht. Dafür werden die Arbeiternehmer notfalls kämpfen – anders als um die 35-Stunden-Woche. Die Gewerkschaft ist, im Vergleich zu 2003, gestärkt.

Der sächsische Arbeitgeber-Chef Bodo Finger fordert für den Osten separate Tarifverhandlungen. Ist das sinnvoll?

Nein, das wäre ein großer Rückschritt. Das Ziel muss doch sein, die Lebensverhältnisse in Ost und West zu vereinheitlichen. Das gilt auch für Tarifverträge. Ostdeutschland darf nicht zu einer Niedriglohnzone werden. Außerdem gibt es im Tarifvertrag Härtefallklauseln für Unternehmen. Damit hat Sachsen gute Erfahrungen gemacht.

Aber zeigt der Osten nicht, dass die Unterschiede zwischen den Regionen und den Betrieben viel zu groß für einen Abschluss für die gesamte Branche sind?

Nein. Der Tarifabschluss ist doch schon eine Durchschnittsbildung. Da können auch schwächere Unternehmen einigermaßen mitmachen. Der Tarifvertrag ist zum einen moderat, zum anderen ermöglicht er Flexibilität. Unternehmen, denen es schlecht geht, können davon abweichen – wenn Unternehmer und Arbeitgeber zustimmen.

Wird dieser Abschluss neue Jobs schaffen?

Der Verteilungsspielraum wurde knapp ausgeschöpft – also werden immerhin keine Arbeitsplätze abgebaut. Aber ein Job-Wunder geht von diesem Abschluss auch nicht aus.

Also hat die IG Metall nur die eigene Klientel, die Arbeitnehmer, bedient. Die Arbeitslosen gehen leer aus.

Die Arbeitslosen werden von diesem Tarifvertrag wenig profitieren – das stimmt. Aber die Frage, ob Arbeitsplätze entstehen oder nicht, wird nicht in der Tarifpolitik entschieden. Viel wichtiger sind die Güter- und Finanzmärkte. Und solange Unternehmen nicht investieren, obwohl sie Gewinn machen, kann auch die moderateste Tarifpolitik nichts ändern.

Die SPD hat dem Tarifabschluss applaudiert. Kanzler Schröder sprach von einer Hilfe für die Wirtschaft. Ist die tiefe Kluft zwischen SPD und Gewerkschaft damit überwunden?

Nein. Schröder und auch Clement ist ein Stein vom Herzen gefallen, weil es keinen Streik gibt. Das ist alles. Die SPD braucht unbedingt einen Wirtschaftsaufschwung, um ihr Stimmungstief zu überwinden. Mit einem Streik wäre eine zusätzliche Belastung und eine neue Front entstanden. Im Übrigen haben die Politiker den Abschluss zwar munter kommentiert – allerdings ohne den ausgehandelten Tarifvertrag überhaupt zu kennen.

Lohnt es sich für Sozialdemokraten, den Tarifvertrag zu lesen?

Ja. Schröder sollte das dringend tun.

Warum?

Der Kanzler hat erst sehr spät in seiner Amtszeit die Innovationspolitik entdeckt. Mit diesem Tarifvertrag machen ihm die IG Metall und der Arbeitgeberverband vor, wie man auf der unternehmerischen Ebene Innovationskräfte entfalten muss. Insoweit kann Schröder davon lernen.

Was genau?

Die Tarifvertragsparteien, und auch die Arbeitgeber, haben offensichtlich entdeckt: Hört endlich auf mit dem neoliberalen Gebrüll von der Kostensenkung! Kümmert euch lieber um den Absatz, die Produktverbesserung und die Entwicklung neuer Produktlinien. Es ist ein Novum, dass die Tarifparteien die Notwendigkeit einer Innovationspolitik tarifvertraglich festschreiben. Allein die Maßnahme, dass Betriebe mit hoch qualifiziertem Personal 50 Prozent ihrer Belegschaft auf 40 Arbeitsstunden pro Woche anheben können, stärkt das Innovationspotenzial. Wenn der Kanzler den Tarifvertrag gelesen hätte, müsste er sagen: Hoppla, hier bekomme ich ja Unterstützung für meine Innovationspolitik.

Nun hat Schröder in seiner Rede zur Agenda 2010 im März 2003 gesetzliche Eingriffe in die Tarifautonomie angedroht, falls sich die Tarifparteien nicht auf mehr „betriebliche Bündnisse einigen“. Ist die Abschaffung der Tarifautonomie nun vom Tisch?

Die müsste vom Tisch sein. Die Tarifparteien sind intelligenter, als die Politik so oft glauben machen will. Das haben sie nun mit diesem Abschluss bewiesen. Mich hat schon immer geärgert, dass jene Politiker, die die Tarifautonomie angreifen, einfach ignorieren, wie differenziert die Tarifverträge in Wahrheit sind. Der Kanzler sollte sich da in Zukunft raushalten.

Also haben sich Gewerkschaften und SPD wieder lieb.

Wie schon gesagt – nicht unbedingt. Der Grundkonflikt zwischen SPD und Gewerkschaft ist nicht vom Tisch. Das Zerwürfnis ist tief, denn die Gewerkschaften wehren sich gegen die Sozialstaatsdemontage der Regierung und die Aufweichung der sozialen Mindestabsicherung. Da wird es nun eher mehr Streit geben. Denn nun muss sich die IG Metall nicht mehr auf die Tarifpolitik konzentrieren. Deshalb werden sich die Gewerkschaften wieder mit voller Kraft auf die sozialen und wirtschaftlichen Rahmenbedingungen stürzen.

INTERVIEW: THILO KNOTT