Freude, Angst und Plünderungen

Kurdische Kämpfer nehmen die nordirakische Ölstadt Kirkuk ein. Unterstützt werden sie dabei von Spezialtruppen der US-Armee

Es geht weder vor noch zurück. Die Menschen schwenken Fahnen,singen und hupen

aus Kirkuk MARCUS BENSMANN

Kirkuk ist gefallen und die Kurden nehmen die Stadt in Besitz. Von der letzten Anhöhe fünf Kilometer vor Kirkuk eröffnet sich im grellen Sonnenschein der Blick auf die Ebene, in der die nordirakische Stadt liegt. Eine schwarze Rauchwolke hängt über der nördlichen Stadtgrenze, die augenscheinlich von einem brennenden Ölfeld stammt. Aus der Ferne ist eine Raffinerie zu sehen, die nach wie vor arbeitet, das Feuer ist deutlich im in den Himmel ragenden Schornstein zu sehen.

Auf den Hügeln sind die Stellungen der kurdischen Peschmerga und der US Special Forces eingegraben. Sporadisch hört man Maschinengewehrfeuer aus der Stadt. Kurz vor Kirkuk ist die Straße von einer Sandbarriere blockiert. Unzählige Militär- und Privatjeeps, Busse, Taxis und Traktoren bahnen sich in beide Richtungen den Weg über den Hügel, um dann wieder auf die befahrbare Asphaltstraße zu gelangen.

Die Fahrzeuge sind ineinander verkeilt. Es geht weder vor noch zurück. Die Menschen in und auf den Autos schwenken amerikanische und kurdische Fahnen, singen und hupen. Die amerikanischen Special Forces haben die Kontrolle verloren: In ihren Jeeps stecken sie zwischen den hupenden Fahrzeugen fest und können sich nur mühsam den Weg nach Kirkuk bahnen.

Die Einwohner Kirkuks hätten sich am Mittwochmorgen gegen die irakischen Truppen in der Stadt erhoben und diese vertrieben, erzählt ein Kommandant der Patriotischen Union Kurdistans (PUK). Er versichert, dass die Peschmergas der PUK nicht an dem Kampf um die nordirakische Stadt beteiligt seien. Die PUK habe eine Absprache mit den Amerikanern getroffen, dass ihre Kämpfer die Stadt nicht besetzen werden. Der kurdische Kommandant spricht stattdessen von Milizen und Paramilitärs. Diese feine Unterscheidung zwischen Perschmergas und Paramilitärs wird von der Realität eingeholt. Jeeps mit aufmontierten Raketenwerfern, und Lastwagen, auf deren Ladeflächen dicht gedrängt Uniformierte stehen, fahren nach Kirkuk hinein. Die Militärfahrzeuge werden umringt von hunderten Kämpfern, die, mit Kalaschnikows bewaffnet, in die Stadt marschieren.

Vor allem strömen die einfachen Kurden in die Stadt. Wie ein Lauffeuer hat sich die Nachricht vom Fall Kirkuks in den von den Kurden kontrollierten Gebieten herumgesprochen. Männer, Frauen, Kinder haben sich in Bussen, auf Lkws und in Pkws gedrängt, um so schnellstens in die für sie befreite Stadt zu kommen. Tausende von Fahrzeugen bahnen sich den Weg. Es gibt keinerlei Straßensperren mehr auf der Straße von Suleimanija nach Kirkuk, die Checkpoints sind aufgehoben. Weder die Peschmerga der PUK noch die amerikanischen Spezianeinheiten können oder wollen den spontanen Ansturm der Kurden auf die nordirakische Stadt stoppen oder wenigstens regeln. Die Kurden, die sich in den Fahrzeugen drängen, rufen, dass sie so schnell wie möglich zu ihren Häusern oder Wohnungen gelangen wollten, aus denen sie vertrieben worden seien. Viele Kurden, auch die in Zivil, haben eine Kalaschnikow umgehängt oder eine Pistole am Gürtel. Von einer geordneten Übernahme der nordirakischen Stadt Kirkuk kann nicht die Rede sein. Die Versicherung des PUK-Ministers für Menschenrechte und Vertreibung, dass die Rückgabe des kurdischen Eigentums in der nordirakischen Stadt in einem von der UN kontrollierten Verfahren ablaufen sollte, wird durch den ungehinderten Ansturm der Menschen zur Makulatur.

Gleichzeitig strömen die Menschen auch in die andere Richtung: aus Kirkuk hinaus nach Suleimanija oder Chamchamal. Einige von ihnen wollen ihre Verwandten besuchen oder diese gleich nach Kirkuk zurückholen. Ein Kurde flieht mit seiner schwangeren Frau aus der Stadt – er befürchtet weitere Kämpfe und Plünderungen. Ein mit einer Uniformhose bekleideter junger Mann kommt gerade aus Kirkuk. Er habe, so erzählt er, an dem Aufstand teilgenommen. Er ist mit einem Messer und einer Kalschnikow bewaffnet. Der Mann erzählt von Plünderungen, die in der Stadt ausgebrochenen seien. Die meisten Araber hätten aus Angst vor Drangsalierungen vor einigen Tagen die Stadt fluchtartig verlassen, erzählt der junge Kurde.

Der Widerstand der irakischen Armee sei jedoch noch nicht völlig gebrochen. Viele irakische Soldaten hätten sich zwar frühzeitig aus der Stadt abgesetzt, dennoch leisten einige Einheiten weiterhin verbissenen Widerstand. Die kampfwilligen irakischen Soldaten hätten sich jedoch in ein Stadtviertel zurückgezogen, würden aber von Kurden und Amerikanern in die Zange genommen, erzählt der junge Kurde und schwingt sich auf einen Jeep nach Suleimanija. Er will dort nach Jahren der Trennung seine Verwandten besuchen.