Wahnhafter Zerfall

Helmut Kraussers Protagonist fällt im Roman „UC“ abermals aus der Ordnung. Lesung im Literaturhaus

Jede Entscheidung für etwas bedeutet den Ausschluss vieler anderer Möglichkeiten. Die Unerbittlichkeit, die in dieser Tatsache liegt, lässt zuweilen die Phantasie den Entwürfen folgen, die ungelebt blieben – reine Imaginationen. Dem Protagonisten in UC, dem neuen Roman Helmut Kraussers, der jetzt im Literaturhaus liest, wird dagegen alles zur Realität, was er je als Möglichkeit erwog – und es ist ein Alptraum am Rande des Wahnsinns.

Krausser wirft seine Hauptfigur in den Strudel des Ultrachronos: eine Wahrnehmung, in der alle bekannten Zeitdimensionen ihre Gültigkeit verlieren. Und lesend stürzt man sich gern hinterher. Das bis dato gut sortierte Leben Arndt Hermannsteins, eines erfolgreichen Dirigenten in den Enddreißigern – fällt plötzlich vollkommen auseinander; nichts bleibt übrig als Fragmente. Während das Nicht-Gelebte real wird, geht ihm zudem jede Gewissheit bezüglich vermeintlicher Konstanten seines bisherigen Lebens verloren.

Auslöser dieser Sturzfahrt in die eigene Schattenexistenz ist die Nachricht vom Fund der Leiche einer vor 22 Jahren verschwundenen Schulkameradin. Ob Hermannstein sie umgebracht hat? Er weiß es nicht. Die Erinnerungssuche entwickelt sich zu einem kriminalistischen Plot, in den Krausser erneut seine Grundmotive einbindet: Tod, Liebe, die Selbstauflösung der Figuren im Wahn.

Doch der Autor packt noch mehr hinein, wenn er die unbegreiflichen Wahrnehmungen an die Frage nach Möglichkeiten der Poesie knüpft. Zugleich verhandelt er, während er sogartig erzählt, Möglichkeiten des Erzählens, die er durch gekonnte Perspektiv- und Stimmenwechsel gestaltet. Wer erzählt/schreibt überhaupt? Hermannstein? Und wer ist Sam Kurthes, ein Autor, dem er begegnet, ein Theoretiker des Ultrachronos, der mehr über ihn zu wissen scheint als er selbst?

Wenn Krausser Hermannstein über Vergänglichkeit, Abschiede in der Liebe oder die Trauer über verfehlte Entscheidungen nachdenken lässt, dann gelingen ihm wunderbare Sätze über uralte Themen. Kein Überdruss beim Lesen.

Die Variante von Männlichkeit, die Hermannstein verkörpert, ist dagegen ausgesprochen unoriginell. Denn die Formel „ein bisschen Misogynie plus viel Empfindsamkeit“ ist schon allzu sattsam bekannt. Des Autors Faszination für die Dialektik des Schönen und Schrecklichen sucht da manche unhaltbare Haltung zu stützen und grob fahrlässige Wortwahl eines Sprachkünstlers zu decken. Dass beschriebene Gewalt nicht die Übereinstimmung damit bedeutet, ist klar. Wenn sie aber nichts außer Bilderreproduktion hervorbringt, ist sie nicht gedeckt.

Carola Ebeling

Helmut Krausser: UC; Reinbek 2003; 479 S., 19,90 Euro.Lesung: Di, 15.4., 20 Uhr, Literaturhaus