peter unfried über Charts
: „Wir woll‘n, wir woll‘n die Wölfe sehen“

NEUE SERIE: Unkonventionelle Lebensentscheidungen (1) – kann man Fußball-Bundesligist VfL Wolfsburg lieben?

Anfangs verstand ich die Worte nicht genau. Einzelne Fetzen drangen aus dem Kinderzimmer.

– „Grünweiß VfL[1]“,

– „Uns’re Faaben leuchten hell“,

– „hell am Fußballfirmament“,

– „Wolfsburgs VfL“.

???

Ich: Was singen denn deine verdammten Kinder da? Haben die keine anderen Sorgen?

Er lächelte verklärt, rief die ganze Bagage zusammen, und dann sangen mir Vater, Mutter und die kleinen Teufel miteinander die Hymne des VfL Wolfsburg vor.

Am Ende johlten alle so Zeugs wie „Super-Klausi!“[2], „Wir woll’n die Wölfe sehn“ und „Du kannst nach Hause fahrn“.

Was ich auch postwendend machte.

Das ist doch Wahnsinn. Okay, eine intensive, liebevolle Beschäftigung mit Hertha BSC funktioniert natürlich leider immer noch nicht. Aber für unkomplizierte Gemüter bieten Bayern München und Borussia Dortmund – wie ja auch Aldi und Plus – immer ein gutes Preis-Leistungs-Verhältnis. Wer individueller und anspruchsvoller, modern, aber auch professionell sein möchte: Der SC Freiburg ist heute, im Gegensatz etwa zum FC St. Pauli, eindeutig New School. Dann gibt es konventionelle Beamtenmentalitäten (VfB Stuttgart, Werder Bremen), kuriose, regional oder historisch motivierte Entscheidungen (VfL Bochum, 1. FC Köln). Kann man alle nachvollziehen. Irgendwie. Na gut, fast alle (den 1. FC Kaiserslautern mal außen vor).

Aber VfL Wolfsburg? Das ist doch sicher der unscheinbarste Klub der Fußball-Bundesliga. Die meisten Menschen wüßten noch heute nicht, dass es ihn überhaupt gibt, wenn Effenberg[3]nicht erst gekommen, dann wieder gegangen wäre. Überhaupt: Wolfsburg. Wo liegt das überhaupt? Und wozu? Nur noch mal zum Mitschreiben: Eine Ströbele wählende Kreuzberger Kleinfamilie, die kollektiv für eine Fußball GmbH in Wolfsburg schwärmt, die zu 90 Prozent dem Volkswagen-Konzern gehört[4]? Das gab es mit ziemlicher Sicherheit noch nie.

Bei so was winkt er immer nur noch ab. Er erwarte in der Sache kein Verständnis, aber doch ein gewisses Niveau. Dazu gehöre unter anderem, dass man sich alle Anspielungen auf Hitler und so weiter gefälligst verkneife. Ein paar Tage hat er mir die ganze Geschichte erzählt.

*

„Alles begann, als ich einmal an einem Samstag mit dem ICE hinfuhr[5]. Hatte Zeit. War ja fußballerisch gesehen Single. Wollte einfach mal Effenberg sehen. Natürlich habe ich am Anfang auch noch gegrinst über alles. Den totenstillen Bahnhof. Dann das Multiplex-Kino davor. Die Innenstadt. Diese – hahahaha – Fußgängerzone. Dass tatsächlich überall nur VW rumfahren. Vielleicht ab und zu mal ein Seat oder Audi. Dass das wahre Zentrum der Stadt im Prinzip die Autofabrik ist. Wie man das verklärt hat, indem man eine Unterhaltungsfabrik namens ‚Autostadt‘ dazugestellt hat und so tut, als sei Autobauen eine Kunst oder eine Freizeitbeschäftigung. Dass in den Lokalzeitungen dauernd VW getestet werden. Alle positiv. Dass die Zeitungen eigentlich nur aus einem Autoteil bestehen. Als sie zum ersten Mal im Stadion ‚Wir sind die Niedersachsen‘ spielten, habe ich mich natürlich auch totgelacht. Aber dann … irgendwann … ab dem dritten Mal habe ich mir nichts mehr dabei gedacht, wenn der Stadionsprecher die Spieler ‚Wölfe‘ nannte. Oder den Trainer den ‚Herrn der Wölfe‘. Und irgendwann ist es eh voll egal, und man will mal plötzlich wirklich die Wölfe sehen. Seltsam. Aber es kommt aus tiefstem Herzen. Und dass alles letztlich nur dem strategischen Unternehmensziel dient, den armen Leuten in Wolfsburg zu suggerieren, sie brauchten sich nicht zu grämen, dass sie in Wolfsburg leben. Weil sie besser arbeiten, wenn sie sich nicht grämen? Mir doch längst scheißegal. Die entscheidende Frage ist doch jetzt, ob der Munti[6]tatsächlich Effe ersetzen kann. Oder Tobi[7]? Super, aber zu jung und zu nett, um uns knallhart führen zu können. Miro[8]ist jedenfalls einfach zu still. Da hatte der Wolfgang damals Recht[9]. Aber der Jürgen[10]wird sich ja schon was dabei gedacht haben, als er Effe gehen ließ.“

Blablabla. So ging das stundenlang. Irgendwann tätschelte ich scheinheilig seinen Arm.

„Und die armen Kinder?“

„Ich wurde nicht geboren, um den Ansprüchen anderer zu genügen“, sagte er. (Das war bestimmt aus einem Interview mit Oliver Kahn.)

„Weißt du was“, sagte ich, „du bist ja pervers.“ ENDE.

*

ZUGABE. Zu Hause seufzte ich. So viel Gefühl! Ich dagegen war ja in der Beziehung praktisch versteinert, seit die Sache mit den Kickers damals zu Ende gegangen war. Auch schon wieder ein paar Jahre her.

Ich habe nur mal so nachgekuckt: Ich könnte morgen um 15.40 Uhr am Ostbahnhof los, und wäre praktisch um halb zehn schon wieder zuhause.

Hannover 96? Die putzen wir doch weg.[11]

1. Kann man Wolfsburg-Fan werden? 2. Was war Ihre unkonventionellste Lebensentscheidung?kolumne@taz.de