„Berlin war mal eine Frauenstadt“

Ella Barowsky

„Die Männer haben uns aufräumen lassen. Als die ersten Kriegsgefangenen zurückkamen, stellten sie mit Entsetzen fest: Oh, das machen ja jetzt alles die Frauen!“„Ich muss Ihnen ehrlich sagen, es ist mir lieber, die Amerikaner siegen, als die Iraker. Gott sei Dank sind wir diesmal nicht dabei“

… hat die Geschichte Berlins im letzten Jahrhundert miterlebt und mitgestaltet. Die heute 91-Jährige war eine Trümmerfrau, die nicht nur die Steine wegräumte, sondern auch das am Boden liegende Gemeinwesen der Stadt neu mit aufbaute. Am vorigen Donnerstag hat sie die Luise-Schroeder-Medaille für ihre Verdienste um Berlin erhalten. Die promovierte Nationalökonomin, eine passionierte Liberale, war Stadtverordnete, in den Fünfzigerjahren Bürgermeisterin in Schöneberg, später Stadträtin für Finanzen in Wilmersdorf und jahrelang Direktorin des Lette-Vereins

Interview WALTRAUD SCHWAB

taz: Frau Barowsky, Sie wurden für Ihr Lebenswerk als Berliner Lokalpolitikerin mit der Luise-Schroeder-Medaille ausgezeichnet. Wie ist es, eine Ehrung zu erhalten, die nach einer Frau benannt ist, mit der man politisch zusammenarbeitete?

Ella Barowsky: Nun ja, Luise Schroeder war Berliner Bürgermeisterin und überzeugte Sozialdemokratin. Ich war Abgeordnete und eine Liberale. Man hat sich sachlich auseinander gesetzt und war immer auch ein bisschen freundschaftlich. Man hielt als Demokrat zusammen, denn es drohte ja eine neue sowjetische Diktatur. Ich gehöre zu denen, die damals 1948 von den Kommunisten aus der Stadtverordnetenversammlung rausgeprügelt wurden. Das war direkt gefährlich, direkt gefährlich war das.

Geehrt werden Sie für Ihr langes Engagement als Frau in der Berliner Politik. Stört Sie die Betonung auf Frau?

Mir kommt die Frage immer wie eine aus dem 19. Jahrhundert vor. Glauben Sie mir, Ehrungen an Männer hat man genug verliehen. Es wird Zeit, dass man sich darauf besinnt, dass Frauen auch zu ehren sind. Die haben mitunter mehr getan als die Männer.

Was?

Hören Sie mal, der gesamte Aufbau nach dem Krieg ist von Frauen gemacht worden. Berlin war jahrelang eine reine Frauenstadt. Die Männer haben uns aufräumen lassen. Ich erinnere mich daran, wie die ersten Kriegsgefangenen zurückkamen und wir die empfangen haben. Mit Entsetzen stellten die fest: „Oh, das machen ja jetzt alles die Frauen!“

Als Zeitzeugin und Politikerin haben Sie nahezu das ganze letzte Jahrhundert aus Berliner Perspektive erlebt. Vom Ersten Weltkrieg bis heute.

Vom Ersten Weltkrieg habe ich nicht so viel mitbekommen.

Keine Erinnerung an Hunger, an Steckrüben?

Steckrüben sind was Wunderbares! Mir ist es damals so schlecht nicht gegangen. Meine Mutter stammte aus Schlesien und sagte eines Tages, ich muss meinen Vater besuchen. Erstens hab ich ihn lange nicht gesehen, und zweitens muss ich gucken, was es da zu essen gibt. Schlimmer war für mich die erste Nachkriegszeit. Schlangestehen um ein Pfund amerikanisches Schmalz, das Milliarden kostete.

Teenager waren Sie in der Weimarer Republik?

Die habe ich als was sehr Positives erlebt. Wenn ich an die Schule denke: Die haben es eingerichtet, dass nicht nur die wohlhabenden, sondern auch die weniger wohlhabenden Kinder auf das Lyzeum gehen konnten. Bildungspolitik, Sozialpolitik – so schwer das war wegen der hohen Inflation –, aber die Bemühungen darum waren hervorragend.

Die haben Sie geprägt?

Sie wurden zu einem politischen Bestandteil meines Denkens.

Als die Nazis an die Macht kamen, waren Sie Studentin.

Und ich ging selbstverständlich zur Wahl, denn man durfte sich doch nicht mausig machen. Ich habe mir gesagt: „Durchkommen und dafür sorgen, dass es nachher wieder besser wird.“

Sie wurden eine stille Beobachterin in der Nazi-Zeit?

Ich habe alles getan, um mich nicht persönlich zu bekleckern. Deshalb habe ich ungültig gewählt.

Andere Widerstandsformen?

Ich bin die Letzte, die sagen würde, ich wäre ein Widerständler gewesen. Ein innerer Widerständler ja.

Ist innere Emigration nicht ein Widerspruch in sich?

Gott, das ist eine philologische Frage.

Sie haben 1943 in Nationalökonomie promoviert? Was bedeutet das?

Große Frage: Was nimmt man in so einer Zeit für ein Thema? Ich habe an der Berliner Universität studiert. Man kannte die Professoren und die kannten ihre Hörer. Es gab ja Leute, die nicht Nazi waren.

Wirklich? An der Universität wurden die Professoren doch als Erstes ausgetauscht.

Schon. Ich habe erlebt, wie all die jüdischen Dozenten verschwunden sind. Meine Frau Leubuscher auch. Ich hab ihr einen Brief geschrieben, nachdem ich gesehen habe, dass sie keine Vorlesungen mehr gibt. Die Preußische Post hat ihn ihr nach England nachgeschickt. Da waren die korrekt.

Was war nun Ihr Dissertationsthema?

Ich war damals im Krieg bei einer Wohnungsbaufirma angestellt. Musste ja meine Brötchen verdienen. Da habe ich das Thema gefunden. „Wohnungsbaufinanzierung im New Deal“, also in den Vereinigten Staaten. Ab vom Schuss. Ich wusste ein bisschen, wie man es macht. Ich hab die Arbeit übrigens im Bunker während der Bombenangriffe fertig geschrieben.

Ziemlich abgebrüht das.

Wissen Sie, am Anfang waren die Angriffe in Berlin furchtbar lang, aber es passierte nicht so viel. Man saß im Keller. Über Stunden. Ich hab dann immer geschrieben. Mir gegenüber saß eine Frau mit Kind, und das fragte: „Mama, hat die Tante keine Angst?“ Ich sagte zu dem Kind: „Nein, und du brauchst auch keine Angst zu haben. Du bist bei der Mama.“

Hat Ihnen Ihre Unerschütterlichkeit bei Kriegsende genützt?

Sie meinen die Vergewaltigungen? Das war schlimm. Manche Frauen haben sich das Leben genommen. Aber ich bin verschont worden. Ein russischer Soldat hat mich geschützt, weil ich ihn an seine verstorbene Tochter erinnert haben soll.

Ihr politisch aktives Leben fängt mit der Stunde Null an?

Was ist die Stunde Null? Die gibt es eigentlich nicht. Ich weiß, es soll ausgedrückt werden, dass hier alles zerstört war. Der totale Zusammenbruch. Der aber doch die einzige Möglichkeit für unsere Befreiung war.

Zusammenbruch als Voraussetzung der Befreiung – sehen Sie Parallelen zum Irak? Sind Sie gegen den Krieg dort?

Hören Sie mal, ich kann bei einem Krieg in so einem Land weder dafür noch dagegen sein. Ich habe gar keine Möglichkeiten, dafür oder dagegen zu sein. Das ist alles Quatsch. Deshalb habe ich auch gar kein Verständnis für diese Demonstrationen. Gar kein Verständnis.

Warum nicht?

Man muss die Zusammenhänge berücksichtigen. Natürlich ist es schrecklich. Niemand wünscht sich einen Krieg. Kein Land, kein Volk wünscht sich einen Krieg. Wir auch nicht, denn wir wissen ja, was Krieg bedeutet. Aber es sind dort Entwicklungen vor sich gegangen, und ich muss Ihnen ehrlich sagen, es ist mir lieber, die Amerikaner siegen, als die Iraker. Von den Amerikanern kann ich immer noch hoffen, dass sie nicht sinnlos Menschen totschlagen. Da bin ich mir bei den Irakern nicht so sicher. Gott sei Dank sind wir diesmal nicht dabei.

Sie befürworten also, dass Deutschland sich aus diesem Krieg heraushält?

Wenn es möglich ist. Wir sind in Bündnissen. Das ist gut für uns. Ich hoffe, dass die Bündnisverpflichtungen uns nicht mit Kriegshandlungen behelligen. Aber ich hoffe, dass wir als gute Bündnispartner nachher beim Aufbau helfen.

Aufbau ist Ihr Thema. Darin sind Sie Expertin geworden.

Um auf 1945 zu kommen. Ich habe gesehen, was um mich herum geschieht, und hatte den Eindruck, wenn man sich als Bürgerliche jetzt nicht ein bisschen auf die Hinterbeine stellt, dann versinken wir wieder im Chaos.

Kriegsende in Berlin. Alles ist kaputt. Sie wissen, es gibt Flüchtlinge, Wohnungsnot, Hunger, Schul- und Gesundheitssystem sind am Boden, der Winter kommt … Was muss eine tun, die in so einer Situation die Verwaltung wieder aufbaut?

Man muss wollen. Und es ist erstaunlich, was man dann alles kann. Es wurde viel improvisiert. Von Strukturen sprachen wir damals nicht. Ich war ja sehr schnell zum Bezirksamt Schöneberg gegangen. Eines Tages fragte mich eine Bekannte: „Was machen Sie dort eigentlich?“ – „Ach wissen Sie, im Augenblick räume ich noch die Steine von der Straße auf. Das machen bei uns alle.“

Die Bezirksverordneten arbeiteten als Trümmerfrauen?

Ich war soweit, mich umzubringen. Ich dachte: „Wir waren mal eine entwickelte Nation, und jetzt räumen wir die Steine weg mit bloßen Händen.“ Während ich so trübe Gedanken hatte, klopft es an meine Tür. Da steht ein Nachbar, mit einem Eimer Wasser. „Den hab ich Ihnen mitgebracht“, sagt er. Ich dachte, das ist der Herr im Himmel.

Ein Eimer Wasser war eine große Sache?

Alles war eine große Sache. Beim Bezirksamt mussten wir uns auch um alte Leute kümmern, die in unbeheizten Zimmern wohnten. Die Leute starben wie die Fliegen. Vor Hunger. Vor Kälte. In der Dominicusstraße gab es noch beheizbare Nazi-Baracken. Da haben wir die alten Leute hingebracht. So etwa waren die Anfänge.

Jedes Problem musste wahrgenommen werden?

Und dann irgendwie gelöst werden. Irgendwie.

Woher haben Sie das Geld gehabt, um Dinge anzuleiern?

Geld ist das geringste Problem. Das sag ich ihnen als Nationalökonomin.

Wie macht man eine zerstörte Stadt wie Basra oder Bagdad also wieder lebensfähig. Wasser- und Stromleitungen kaputt, es wird geplündert, die Menschen sind traumatisiert … Wie entsteht in so einem Chaos eine neue Ordnung?

Man organisiert alles entlang den eigenen moralischen Vorstellungen. Glauben Sie, nach so einem Krieg ist es ein Glück, etwas nach eigenen Maßstäben Richtiges für das Gemeinwohl machen zu dürfen und zu können.

Sie haben viel erlebt: Blockade, Luftbrücke, 17. Juni, Mauerbau …

Berlin hat eine Dichte an historischen Geschehnissen. Die Stadt hat damals eine europäische Bedeutung gehabt. Obwohl, der Mauerbau war schon ein Schlag. Da wollten viele plötzlich nur noch weg aus der Stadt.

Sie auch?

Ich wusste nicht, was ich anderswo sollte.

Bis hin zum Mauerfall haben Sie Berlin politisch begleitet.

Ach ja, der Mauerfall. Diese Freude.

Ist das Berlin heute noch jenes, für das Sie so viel Einsatz gezeigt haben?

Berlin gefällt mir. Seine Regierung gefällt mir weniger. Wobei ich sie nicht in Bausch und Bogen ablehnen möchte. Ich habe meine eigenen Gedanken über den Sozialismus. Ich habe sehr ordentliche Sozialdemokraten kennengelernt. Ich könnte beinahe sagen, ich bin befreundet mit ihnen. Aber ich bin nun mal eine Liberale und keine Sozialistin. Das schließt sich aus.

Sie haben für die Geschichte auch einen persönlichen Preis bezahlt. Sie haben Ihren Verlobten im Krieg verloren.

Es gibt wenige Menschen, die nie einen persönlichen Preis im Leben bezahlen.