piwik no script img

Archiv-Artikel

Verbal ausgezogen

Der 16-jährige Philipp gerät auf die schiefe Bahn und besinnt sich wieder. Seine Mutter wendet sich ans Amt für Soziale Dienste. Dann droht das Familieninterventionsteam mit Entzug des Sorgerechts: Wie Hamburg Menschen nicht hilft, die Hilfe wollen

Ihre Sorge wuchs, der Druck auf ihn auch. Es kam zum Streit, irgendwann jeden Tag „Das sind die zwei Möglichkeiten“, habe man ihr gesagt. „Entweder – oder“

von ELKE SPANNER

Halbtagsstelle als Bürokauffrau, fünf Kinder, allein erziehend. Carola Schneider (alle Namen geändert), heute 40 Jahre alt, ist eine resolute Frau. Sie hat viel Energie. Die hat sie auch gebraucht, seit sie mit Anfang 20 das erste Mal schwanger geworden war, und manchmal war zudem fachkundiger Rat vonnöten. Nie hat sie sich gescheut, fremde Hilfe in Anspruch zu nehmen. Über Jahre stand sie in Kontakt mit dem Amt für Soziale Dienste (ASD) in ihrem Bezirk. Vertrauensvoll war das Verhältnis, sagt sie, sie ist gerne dorthin gegangen und hat sich „verbal ausgezogen“, warum auch nicht.

Jetzt aber fühlt sie sich, als habe man ihr den Boden unter den Füßen weggerissen. Sie weiß nicht mehr, wer alles ihre Akten zu lesen bekam, den Überblick über alle Probleme, die sich aufgetan haben in den vergangenen Jahren. Denn die Akten wurden weitergereicht. Sie liegen nicht mehr beim ASD, dem sie vertraute. Jetzt sind sie beim Familieninterventionsteam (Fit), das der Senat im Januar gegründet und das die Zuständigkeit für ihren Sohn Philipp übernommen hat. Und das Fit hat nach Aktenlage eine gravierende Entscheidung getroffen: Es hat beim Familiengericht beantragt, Carola Schneider das Sorgerecht für ihren 16-jährigen Sohn zu entziehen.

Dabei hatte sie sich zunächst sogar gefreut, als sie im Februar Post vom Fit bekam. Die Probleme mit Philipp hatten sich in den vergangenen Monaten zugespitzt. Er arbeitete in der Schule nicht mit, sie machte Druck. Der Hauptschulabschluss war in Gefahr, ihre Sorge wuchs, der Druck auf ihn auch. Es kam zum Streit, irgendwann jeden Tag. Carola Schneider macht keinen Hehl daraus, dass sie sich manchmal ganz schön überfordert fühlte: „Ich hatte keinen Zugang mehr zu meinem Sohn.“

Deshalb ging sie zum ASD. Dieses machte vorigen Sommer den Vorschlag, Philipp aus der Familie zu nehmen und in eine Jugendwohnung zu geben. Die Mutter stimmte zu, Philipp zog im Juli aus. Nicht einmal drei Monate später war er wieder da. Philipp fühlte sich von seinen Betreuern zu oft allein gelassen, einerseits. Andererseits nutzte er die Freiheit der eigenen Wohnung zusammen mit Freunden so weit aus, dass die Beschwerden von Nachbarn sich häuften und Philipp schließlich aus der Wohnung flog.

Wenige Wochen nach seiner Rückkehr eskalierte die Situation. Philipp sei ganz verändert gewesen, sagt Carola Schneider. Er war aggressiv, ein Wort von ihr, und er ging in die Luft. Dann hat er neue Freunde gefunden, die falschen, wie seine Mutter sagt. Er zog mit einer Jugendbande los, die ihre Zeit damit verbrachte, andere zu bedrohen und auszurauben. Auch Philipp war bei einigen Überfällen mit dabei. Im November wurde die Bande festgenommen. Die meisten sitzen noch heute in Untersuchungshaft, Philipp kam nach seiner Vernehmung frei. Er hatte gestanden, an einigen Raubtaten beteiligt gewesen zu sein.

Für beide, Carola Schneider und ihren Sohn, ist die Festnahme ein lehrsamer Schock. Philipp gelobt, sich zu bessern, und Carola Schneider erkennt, dass sie ein weiteres Mal Unterstützung braucht. Sie überzeugt Philipp, eine Therapie zu beginnen, und vereinbart für ihn einen Psychiater-Termin. Ein weiteres Mal wendet sie sich an das ASD, man vereinbart, eine „Familienkonferenz“ abzuhalten. Parallel schlägt sie Philipp vor, sich bei seinen Opfern zu entschuldigen, und er willigt ein. Nachdem Rechtsanwältin Karin Hoffmann die Opfer angeschrieben hat, kommt es zu zwei Treffen. Die Geschädigten nehmen Philipps Entschuldigung an.

Ende Januar dann veranstaltet das ASD die Familienkonferenz, in der ausführlich über das weitere Vorgehen beraten wird. Die Entscheidung: Die Familie soll „ambulante Hilfen zur Erziehung“ bekommen. Philipp verspricht, sich um einen Platz im Förderprogramm „Quast“ zu bemühen, in dem er ein berufliches Praktikum und parallel seinen Schulabschluss machen könnte. Der ASD will Adressen von Anti-Gewalt-Trainings besorgen. Und: Mutter und Sohn, so die weitere Vereinbarung, beginnen eine Familientherapie. Carola Schneider vereinbart umgehend Termine bei einem Psychologen.

Drei Wochen später kommt die Einladung zu einem Gespräch beim Fit. Carola Schneider rechnet damit, Adressen für das Anti-Gewalt-Training zu bekommen: „Ich bin mit viel Vertrauen und Zuversicht zum Fit gegangen“, wird sie später in ihrer Dienstaufsichtsbeschwerde schreiben, die sie gegen das Fit stellt. Denn eine Stunde später ist für sie die Welt zusammengebrochen: Philipp, teilt man ihr mit, kommt in eine Jugendwohnung außerhalb Hamburgs. Da sie dem nicht zustimmen will, beantragt das Fit den Entzug des Sorgerechts.

Carola Schneider sagt, dass der dortige Pädagoge ihr nicht einmal zugehört habe. Seine Entscheidung hatte er zuvor nach Aktenlage getroffen, und er teilte sie ihr nur noch mit. Natürlich hat sie dagegen protestiert, dass ihr Sohn in ein „betreutes Wohnen“ kommen sollte, denn damit hatte sie schlechte Erfahrungen gemacht. Und der ASD, wandte sie noch ein, hatte doch beschlossen, Philipp bei ihr zu lassen und die Familie mit einer Therapie zu stabilisieren.

„Illusionen“, habe der Pädagoge sie abgefertigt. Das Gespräch hätte kaum zehn Minuten gedauert, da habe er ihr bereits gedroht: Zustimmung zum betreuten Wohnen oder Entzug des Sorgerechtes. „Das sind die zwei Möglichkeiten“, habe man ihr gesagt. „Entweder – oder.“ Philipp bricht in Tränen aus, die Familie geht. Wenige Tage später dann Post vom Gericht: Carola Schneider, erfährt sie da, ist das Sorgerecht einstweilen aberkannt.

Ihre Anwältin Karin Hoffmann bezeichnet es als vollkommen unangemessen, dass der Fit-Mitarbeiter Carola Schneider gleich bedroht habe, anstatt zunächst das Gespräch mit ihr aufzunehmen. „Wenn man sich ihr gegenüber anders verhalten und gemeinsam darüber beraten hätte, ob ein Weggang aus Hamburg gut für Philipp ist, hätte sich Frau Schneider das vielleicht ernsthaft überlegt“, sagt die Anwältin. Anstatt zumindest zu versuchen, Carola Schneider davon zu überzeugen, habe der Fit-Mitarbeiter ihr gleich gedroht. Sie rät allen Familien, sich anwaltlichen Beistand zu suchen, wenn das Fit die Zuständigkeit für den Sohn oder die Tochter übernimmt.

Im Falle Carola Schneider läuft nun vor dem Familiengericht das Verfahren, in dem darüber entschieden wird, ob sie das Sorgerecht für Philipp zurückbekommt oder ob es beim Fit verbleibt. Obwohl das Damoklesschwert noch immer über der Familie schwebt, hat sich deren Situation inzwischen etwas entspannt. Der gemeinsam erlebte Schock hat Mutter und Sohn wieder mehr zusammengeschweißt, Carola Schneider sagt, ihr Verhältnis ist im Moment so gut wie lange nicht.

Und bei Fit ist jetzt eine andere Sachbearbeiterin für Philipp zuständig. Die verfolgt offenbar einen anderen Weg. Den, der auf der Familienkonferenz Ende Januar vereinbart worden ist.