Voller Hoffnung und Angst

Das Notaufnahmelager Marienfelde feierte gestern sein 50-jähriges Bestehen. Wie ein Seismograph gab es die Stimmung in der DDR wieder. Heute hoffen hier Spätaussiedler auf ein besseres Leben

„Da habe ich die Stasi hinter mir gelassen“, erinnert sich eine Zeitzeugin …„… und jetzt kommen nun noch Leute, die mich immer wieder triezen“

von PHILIPP GESSLER

Heimat, das ist für Tetyana Ohirko aus der Ukraine ein Baum mit einem mächtigen Stamm. Seine Wurzeln sind eine Katze, gezeichnet von der 13-Jährigen, ein Hamster, ein See, ein Haus, eine Blume und ein Hund. In der Krone des Baums ist ein weiteres, größeres Haus zu sehen. Es hat drei Eingänge mit den Nummern 65, 66 und 67. Neben dem Stamm schlängelt sich wie eine Schlange ein langer Pfeil, dessen Spitze wegführt vom Baum. „Berlin“ steht neben ihm.

Das Bild Tetyanas hängt in einer Ecke des Festzeltes zum 50-jährigen Jubiläum des Notaufnahmelagers Marienfelde. Heute heißt der Gebäudekomplex im ärmlich-schlichten Stil der Fünfzigerjahre „Zentrale Aufnahmestelle des Landes Berlin für Aussiedler“ (ZAB). In 156 Wohnungen können knapp 640 Spätaussiedler aus Osteuropa untergebracht werden, ehe sie ihre eigene Wohnung erhalten. Etwa drei Monate dauert das im Schnitt. Es sind knapp 100 Tage voller Hoffnung, Angst und Schmerz.

Die Sonne scheint, die Luft ist mild, Luftballons flattern im Wind. Und doch hängt Melancholie über diesem Ort. Als hätten die Mauern die Millionen Tränen aufgesogen, die seit dem 14. April 1953 hier geflossen sind. Von Ellis Island aus, dieser Insel vor New York, wo zwischen 1892 and 1924 über 22 Millionen Menschen in die USA einwanderten, kann man die Freiheitsstatue sehen. Das Notaufnahmelager Marienfelde ist das Ellis Island Berlins. Ohne Freiheitsstatue.

„Wir wissen um die qualvollen Entschlüsse, Besitz, Beruf, Amt, vertraute Lebenslandschaft verlassen zu sollen.“ (Bundespräsident Theoder Heuss bei der Eröffnung des Notaufnahmelagers)

Rund 1,35 Millionen Menschen sind durch das Notaufnahmelager geschleust worden – zeitweilig bitten bis zu 1.500 täglich um Aufnahme. Die Zahl der Übersiedler ist ein Seismograph der Stimmung in der DDR: Je schlechter sie ist, umso größer die Zahl der Flüchtlinge.

Im Jahr des Aufstandes vom 17. Juni 1953 flüchten über 300.000 Menschen nach West-Berlin – fünfmal mehr als noch zwei Jahre zuvor. Im Laufe der Fünfzigerjahre sinkt die Zahl der Flüchtlinge auf 90.000 ab, um 1960 und 1961 auf über 150.000 hinaufzuschnellen: Bis zum Mauerbau am 13. August 1961 suchen mehr als 125.000 Menschen Zuflucht in Marienfelde.

Die innerdeutsche Grenze wird fast unüberwindbar, viele arrangieren sich mit dem Leben unter dem SED-Regime. So nimmt die Zahl der Untergebrachten in Marienfelde zeitweise auf 300 Menschen pro Jahr ab. Doch schon 1984 sind es wieder über 1.000. Erstmals seit 1961 ist das Lager wieder überbelegt. In den beiden letzten Jahren vor dem Mauerfall kommen wieder jeweils über 10.000 Menschen. Zelte müssen aufgestellt werden. Die letzten Übersiedler verlassen das Lager 1993.

„Haben Sie auch eine Kopie Ihres Laufzettels?“ (ein Gast auf der Jubiläumsfeier)

Die Flüchtlinge, die ins Notaufnahmelager gelangen, erwartet Kargheit: winzige Zimmer mit Stockbetten, ein Tisch, ein Schrank, zwei Stühle. Eine Toilette, eine Badewanne und eine Küche mit zwei Herdplatten müssen für mehrere Familien reichen. Vor allem aber empfängt Bürokratie die Flüchtlinge. Sie erhalten einen Laufzettel. Bei 13 verschiedenen Stellen haben sie sich zu melden – das dauert knapp zwei Wochen.

Es gibt eine ärztliche Überprüfung, mehrere Vorprüfungen, eine Ländereinweisung, vor allem aber die Befragung durch Beamte der alliierten Schutzmächte: Verhöre sind es eher, die dazu dienen, mehr über die DDR zu erfahren, Bekanntes zu überprüfen und mögliche Spitzel im Lager auffliegen zu lassen: Wie ist die Versorgungslage in der DDR? Wie die Stimmung? Was machen die dortigen Truppen? Welche großen Bauvorhaben gibt es? Und so weiter. Die Befragungen sind hart, viele empfinden sie als demütigend: „Da habe ich die Staatssicherheit hinter mir gelassen, und jetzt kommen mit einem Mal nun noch Leute, die mich immer wieder triezen“, berichtet eine Frau, die 1986 flieht.

„Vorsicht! Bei Gesprächen (Spitzelgefahr), bei Einladungen (Menschenraub), im Schriftverkehr nach der SBZ“ (Schild im Museum des Notaufnahmelagers)

Das alte Leben hängt noch wie eine Klette an den Flüchtlingen. Sie haben Angst um die in der DDR gebliebenen Angehörigen, die wegen ihrer Flucht Repressalien ausgesetzt sein könnten. Sie haben Familie und Freunde verloren. Sie sind unsicher angesichts ihrer Zukunft und oft völlig übermüdet, da sie zu Stoßzeiten in Hallen mit 100 doppelstöckigen Betten unterkommen.

Und dann die Warterei in den Schlangen vor den einzelnen Befragungen, die der Laufzettel verlangt: „Im Notaufnahmelager Marienfelde habe ich im Stehen schlafen gelernt. Indem ich mich an die Wand gelehnt habe, möglichst ’ne Ecke, die war günstiger, die Beine etwas breit, und so konnte ich wirklich tief und fest schlafen“, berichtet ein Flüchtling, der 1957 aufgenommen wurde.

Hinzu kommt die Angst vor Stasi-Spitzeln, die nicht unbegründet ist, wie sich nach Öffnung der MfS-Akten nach 1989 zeigt. Viele Zeitzeugen berichten darüber, dass sie niemandem Genaueres über sich oder ihre Flucht erzählen. Es gibt das Gerücht, Spitzel sammelten Informationen, um Angehörige der Geflohenen in der DDR zu drangsalieren. Aufgerufen werden wartende Flüchtlinge in den Gängen zeitweise nur mit Vornamen und Geburtsdatum.

Misstrauen herrscht. Selbst das Wenige, was man auf der Flucht mitgenommen hat, ist hier nicht sicher: „Wir haben ja lieber im Zimmer gesessen. Man musste ja immer aufpassen, dass nichts geklaut wurde“, berichtet sich eine Zeitzeugin. Die Zimmer können nicht abgeschlossen werden. Zum eigenen Schutz verbarrikadieren sich manche in ihrem Zimmer mit Stühlen oder Tischen, die sie vor die Tür rücken. Die Frauen sind nicht sicher im Lager: „Vergewaltigungen waren an der Tagesordnung“, erinnert sich eine Frau, die 1960 mit 19 Jahren flüchten kann.

„Diese Geschichte mahnt uns, in jedem Flüchtling zuerst den Menschen zu sehen.“ (Justizsenatorin Karin Schubert)

Es ist Tag der offenen Tür im früheren Notaufnahmelager. Junge und alte Leute stehen vor den Unterkünften. Sie sprechen Russisch, alte Mamuschkas mit Halstuch sind darunter. Auf dem Festplatz zeigt eine Sportgruppe der Polizei, wie auf einem Motorrad fünf Schäferhunde und vier Polizisten, zwei davon im Handstand, zu transportieren sind. McDonald’s hat einen Stand. Von der Hüpfburg schallt Kinderjauchzen herüber. Das neue Leben von Tetyana Ohirko beginnt in Marienfelde.