Macher und Andersmacher

Franz Müntefering und Gerhard Schröder vertreten dieselbe Politik, jeder auf seine Weise. Der neue SPD-Chef verströmt Wärme, der Kanzler erhält Respekt

AUS BOCHUM JENS KÖNIG

Die Regel Nummer vier eines Sauerländer Grußwortes lautet: Rede nie länger, als du auf einem Bein stehen kannst.

Kein Mensch weiß, ob es Sauerländer Grußworte überhaupt gibt, und schon gar nicht, ob sie besonderen Regeln unterworfen sind. Aber wenn Franz Müntefering das behauptet, wird es schon stimmen. Müntefering ist Gott, jedenfalls für all diejenigen, deren Welt nicht größer ist als die SPD. Müntefering darf alles, weiß alles, kann alles. Keiner nimmt es ihm übel, dass er mittlerweile jede noch so banale Erkenntis zu einer Sauerländer Lebensweisheit aufbläst. Aber wenn es Sauerländer Grußworte tatsächlich geben sollte, dann ist Müntefering gerade dabei, deren vierte Regel zu brechen. Eine halbe Stunde redet er jetzt schon, und ein paar Minuten werden noch hinzukommen. Solange steht Müntefering niemals mehr auf einem Bein. Der Mann ist 64.

Sage keiner, die Zeitfrage ist unwichtig. An diesem Sonnabend in der RuhrCongress-Halle in Bochum ist alles wichtig. Franz Müntefering, der neue SPD-Vorsitzende, und Gerhard Schröder, der alte SPD-Vorsitzende, treten zum ersten Mal nach dem Aufsehen erregenden Machtverzicht des Kanzlers vor ihre Genossen, und das ausgerechnet in Nordrhein-Westfalen, dem Zentrum der sozialdemokratischen Angst. Es ist mehr als ein Stimmungstest in dem Land, in dem im Herbst Kommunalwahlen und im Frühjahr 2005 Landtagswahlen stattfinden. Müntefering und Schröder müssen die Sozialdemokraten in Nordrhein-Westfalen, die sich längst gegen die eigene Führung in Berlin in Stellung gebracht haben, von der Richtigkeit ihrer Politik überzeugen. Und sie können zum ersten Mal unter Beweis stellen, dass die Arbeitsteilung zwischen einem sozialdemokratischen Kanzler und einem sozialdemokratischen Parteichef nicht zwingend in einen Kampf um die alleinige Macht münden muss.

Da ist sogar die Zeit eine Machtfrage, das Protokoll sowieso. Müntefering, seit Schröders Rückzug vom SPD-Vorsitz vor acht Tagen omnipräsent, hält heute also nur ein so genanntes Grußwort. 15 Minuten sind laut Tagesordnung dafür veranschlagt, und das auch erst zwei Stunden nach Schröders politischer Rede. Die SPD ist immer dann gut gefahren, wird der Kanzler später sagen, wenn sie nach der Maxime gehandelt habe, erst komme das Land und dann die Partei. So soll es auch heute in Bochum sein: Erst der vom Volk legitimierte Regierungschef, dann der Vorsitzende von 630.000 Sozialdemokraten.

Aber jetzt redet Müntefering schon eine halbe Stunde. Trotzdem muss sich der Kanzler keine Sorgen machen. Der designierte SPD-Chef tut das, was er tun muss: Schröders Politik verteidigen und der Partei gleichzeitig das Herz erwärmen, ihr Zuversicht geben. Müntefering schafft das. Einfache Sätze, klare Botschaften, keine Kompromisse.

„Schröder und ich stimmen überein“, sagt Müntefering, „in allen Punkten, an jeder Stelle.“ Korrekturen der bereits beschlossenen Agenda 2010? „Nichts wird zurückgenommen.“ Die SPD als Korrektiv zum Kanzler? „Ich werde die Partei wie die Fraktion nie gegen eine Regierung führen.“ Sozialdemokratische Perspektiven? „Die Agenda 2010 ist noch nicht zu Ende“, sagt Müntefering und deutet an, dass die Regierungspolitik nur dort sozialdemokratischer werden kann, wo konkrete Beschlüsse noch nicht gefasst sind: bei der Erbschaftssteuer („große Vermögen stärker belasten“), der Ausbildungsplatzabgabe („hier machen wir Ernst“) oder der Bürgerversicherung („das ist nichts, womit wir alle Probleme lösen“). Die 450 Delegierten des Parteitages feiern die erst am 21. März beginnende Ära Müntefering schon mal jetzt mit Standing Ovations.

Es wird sich erst in den kommenden Monaten zeigen, ob der zukünftige SPD-Chef tatsächlich die Rolle im neuen Machtgefüge spielen wird, die der Kanzler ihm zugewiesen hat. „Franz Müntefering macht nichts anderes“, sagt Schröder, „er macht es nur anders.“ Einstweilen kann er darauf vertrauen, und so hat er an diesem Nachmittag, als Müntefering in Bochum redet, den Parteitag bereits wieder Richtung Hannover verlassen. Das war allerdings ein Geschäft, das auf Gegenseitigkeit beruhte: Müntefering hatte am Vormittag dem Kanzler die Bühne allein überlassen. Er betrat erst den Saal, als Schröder zu Ende geredet und seinen Beifall genossen hatte.

Ja, Beifall der eigenen Genossen für Schröder, den gab es so unbeschwert, so befreiend lange nicht mehr. „Ich bin in Nordrhein-Westfalen schon unfreundlicher aufgenommen worden“, sagt der Kanzler später. Dabei hatte er gar keine andere Rede gehalten als die Monate zuvor. Er hatte 140 Jahre SPD-Geschichte beschworen, die innen- und außenpolitischen Zäsuren seit 1998 in Erinnerung gerufen und die internationale Bedeutung seiner Politik unterstrichen. „Hätten wir nicht regiert, dann stünden jetzt deutsche Soldaten im Irak“, hatte Schröder in den Jubel der Delegierten hineingerufen. Natürlich hat er auch die Agenda 2010 verteidigt, kompromisslos sogar, und natürlich flehte er die Genossen an, ihm zu helfen. „Bitte“, sagte er.

Nichts Neues also – aber das Alte wirkte neu, weil Schröder nicht mehr der Gleiche ist. Seine Macht ist beschränkt, das macht ihn hilfsbedürftiger, aber auch freier. Das verschafft ihm bei den Genossen neuen Respekt. Er ist nicht mehr ihr Parteichef – aber immer noch ihr Kanzler und internationaler Repräsentant. „Wer, wenn nicht wir? Wann, wenn nicht jetzt?“, sagte Schröder. Es klang, als beschwöre er mit diesem sozialdemokratischen Motto vor allem sich selbst.