Wegen Pablo Neruda vor Gericht

Mediale Welten: Unbotmäßigen Journalisten drohen in der Türkei drakonische Strafen

Zwei Jahre lang saß Seyfullah Karakurt auf der Anklagebank des Staatssicherheitsgerichts im Istanbuler Stadtteil Besiktas, direkt am Ufer des Bosporus. Sein privater Radiosender Anadolunun Sesi (Stimme Anatoliens) liegt nur zehn Minuten entfernt. Durch seine Berichterstattung wurde er zum Justizfall: Die staatliche Aufsichtsbehörde für Rundfunk und Fernsehen (RTÜK) verhängte ein 150-tägiges Sendeverbot, das dem Lokalradio beinahe die Existenz kostete. Und das Staatssicherheitsgericht klagte ihn gleich viermal an – zu insgesamt 32 Jahren Haft.

In dem Programm „Glaubensmosaik Anatoliens“ klärte Seyfullah Karakurt seine Hörer über die Repressalien gegen ethnische Minderheiten in der Zeit der Republikgründung auf. In den Nachrichtensendungen berichtete er über hungerstreikende Häftlinge. Dabei stützte sich Seyfullah Karakurt auch auf staatliche Quellen wie die Reporte der Menschenrechtskommission des türkischen Parlaments und der Berichte der Medizinischen Kammer. Dennoch wurde er gemäß Paragraph 312 des Strafgesetzbuches, der als Knebelungsparagraph für die Meinungsfreiheit gilt, beschuldigt, das Volk aufgehetzt zu haben. Außerdem warf man ihm vor, eine terroristische Organisation unterstützt zu haben.

Entgegen seinen schlimmsten Befürchtungen wurde Karakurt nun in zwei Verfahren freigesprochen. Mit diesem Urteil hat er nach der zweijährigen Zitterpartie nicht mehr gerechnet, erzählt er aufgeregt in einem Café unweit des Gerichtsgebäudes. Die Richter hätten sich auch nicht anders entscheiden dürfen, schließlich habe er nur die Wahrheit berichtet, sagt sein Rechtsanwalt Ali Riza Dizdar. Womöglich wurde der günstige Ausgang auch von der unübersehbaren Präsenz deutscher und holländischer Konsulatsvertreter beeinflusst, die den Prozess aufmerksam beobachtet haben. Dennoch beantragte der Staatsanwalt Revision, und das letzte Verfahren ist Anfang Mai anhängig – gefordert werden bis zu 18 Jahre Haft. Zwar hofft Karakurt auf einen weiteren Freispruch, doch in der Türkei können sich die politischen Umstände von heute auf morgen ändern, sagt er skeptisch.

Aber Seyfullah Karakurt ist nicht der einzige Journalist auf der Anklagebank. Im Saal nebenan stehen die Geschäftsführerin und der Inhaber der linken Kunst- und Literaturzeitschrift Tavir („Haltung“) vor dem Staatssicherheitsgericht. Der Staatsanwalt beschuldigt auch sie der Unterstützung einer verbotenen Organisation und fordert siebeneinhalb Jahre Haft. Eine der sechs indizierten Schriften handelt von einem politischen Gefangenen, der beim Transport von der Isolationszelle zum Gericht hofft, durch die Gitterstäbe noch einmal seine geliebte Stadt Istanbul zu erspähen. Weiterhin fand sogar ein Gedicht Anstoß, das Pablo Neruda den Müttern der im Widerstand gestorbenen Söhne gewidmet hat. Wegen des Poems und anderer Essays wurde die September-Ausgabe eingesammelt und verboten.

Diese Texte wurden aber bei der Verurteilung nicht mehr berücksichtigt. Stattdessen wurde die Geschäftsführerin wegen zweier anderer Essays zu drei Jahren und neun Monaten verurteilt. Schließlich wurde die Haftstrafe in eine Geldbuße von rund 5.500 Euro umgewandelt. Falls sie die Summe nicht aufbringen kann, droht ihr erneut eine Haftstrafe. LALE KONUK